Belgien wartet auf ein politisches Erdbeben von ungeahnter Größe

Das politische System Belgiens hat beim Schutz der Kinder vor sexueller Ausbeutung versagt. Ein mutiger belgischer Staatsanwalt will jetzt Justiz und Politik auf die Anklagebank setzen. Wenn man ihn machen läßt  ■ Aus Brüssel Alois Berger

Fünf Wörter, mit denen Michel Bourlet zum Hoffnungsträger des gebeutelten Belgiens wurde: „Si on me laisse faire“ – wenn man mich läßt. Es war in einer landesweit ausgestrahlten Fernsehdiskussion mit den Eltern der entführten, mißbrauchten und ermordeten Kinder, als der Staatsanwalt des Provinzkaffs Neufchateau, Michel Bourlet, versprach, er werde die Schuldigen vor den Richter bringen, alle Schuldigen. Und dann fiel dieser Satz, der nun täglich in allen Zeitungen des Landes zitiert wird: „Wenn man mich läßt.“ Seitdem führt die Suche nach den verschwundenen belgischen Kindern nicht mehr nur auf die verwahrlosten Grundstücke des Kinderschänders Marc Dutroux, wo Polizisten mit deutschen Hunden und englischem Spezialgerät nach Leichen graben. Die Bevölkerung will wissen, von wem Dutroux und seine Helfer gedeckt wurden, wieweit Polizisten, Justizbeamte und Politiker den Horror ermöglicht haben. Den Horror, daß ein Mann, der wegen Vergewaltigung von Kindern zu dreizehn Jahren Haft verurteilt wurde, nach vier Jahren entlassen wird und bald damit anfängt, in seinem Keller Käfige für Kinder zu bauen. Den Horror, daß mindestens sechs Kinder monatelang in diesen Käfigen vegetierten, daß sie mit Tabletten vollgepumt und für Pornovideos mißbraucht wurden. Den Horror, daß die Gendarmerie seit einem Jahr die Information zurückhielt, daß Dutroux im einschlägigen Milieu 7.500 Mark für eine Kindesentführung geboten hatte.

15 Mädchen sind in den letzten Jahren in Belgien verschwunden. Nur zwei davon sind bisher lebend wiederaufgetaucht. Sie hatten das Glück, daß eine von ihnen, Laetitia Delhez, in dem kleinen Ort Bertrix entführt wurde. Die Polizei in Bertrix wartete nicht wie die Kollegen in Lüttich oder Charleroi erst eine Woche, ob das Mädchen wiederauftauchen würde. Sie fand schnell zwei Zeugen, die an dem fraglichen Tag einen weißen Lieferwagen mit kaputtem Auspuff gesehen und sich sogar Teile der Autonummer gemerkt hatten. Die Polizei machte den Besitzer des Wagens ausfindig, und Staatsanwalt Michel Bourlet holte in Lüttich Auskünfte über diesen Marc Dutroux ein.

Die Akte Dutroux wog schwer, Autodiebstähle, Raub, Vergewaltigung, sexueller Mißbrauch von Kindern. Der Mann wurde festgenommen und sagte den Ermittlern, er werde ihnen „zwei Mädchen geben“. Im Keller eines seiner Häuser fanden die Polizisten nicht nur Laetitia, sondern auch die 12jährige Sabine Dardenne, die Ende Mai in Westbelgien verschwunden war. Beide waren von den Qualen gezeichnet, aber sie lebten. Nach und nach gestand Dutroux vier weitere Entführungen. Zwei achtjährige Mädchen, Julie Lejeune und Melissa Russo, hat er neun Monate lang in diesem Kellerverlies gehalten, dann, so Dutroux, seien sie ihm verhungert, weil ihn die Polizei wegen Diebstahls eingesperrt hatte. Ihre Leichen fanden die Ermittler auf Dutroux' Grundstück in Sars-la-Buissiere. In fünf Metern Tiefe lag die Leiche eines Bernard Weinstein, ein Komplize, den Dutroux umgebracht hat, weil er sich nicht um die Kinder gekümmert habe. Inszwischen sieht es aber eher so aus, als ob Weinstein vor den Mädchen eingegraben wurde. Die Suche konzentriert sich jetzt auf die 17jährige An Marchal und die 19jährige Eefje Lambrecks, die seit einem Jahr vermißt werden und von denen Dutroux zugegeben hat, daß sie in seinem Haus waren. Manchmal erzählt Dutroux den Ermittlern, daß er sie im Garten verscharrt hat. Dann läßt er sich nach Jumet oder Marcinelle fahren, wo er ebenfalls Häuser besitzt, und zeigt auf Stellen, wo die Polizisten graben sollten. Doch die Grabungen waren bisher erfolglos.

Marc Dutroux wird als überaus intelligent, eiskalt und gerissen beschrieben. Manchmal erzählt Dutroux den Beamten, daß er An und Eefje an Pädophilenringe in Tschechien verkauft hat. Experten halten das für unwahrscheinlich, für wirtschaftlich unsinnig, weil Kinder aus dem Osten für Pädophile viel billiger und mit weniger Risiko zu haben sind. Trotzdem hat die belgische Polizei sechs Beamte nach Prag geschickt. Immerhin hat der Chef der tschechischen Interpol-Abteilung eingeräumt, daß es solche Pädophilenringe gibt, außerdem war Dutroux in den letzten Jahren mehrfach nach Tschechien gereist. Dutroux war auch in Ungarn, in der Slowakei, in Österreich. Die slowakische Interpol-Abteilung bestätigt, daß Dutroux in Bratislawa Kontakte zum Zuhältermilieu geknüpft habe. Doch alle Hinweise deuten darauf hin, daß die Mädchenschlepperei von Ost nach West ging und nicht andersherum. Mindestens zehn junge Frauen um die 18 seien mit Dutroux zusammengekommen, sagt der slowakische Interpolchef Rudolf Gajdos, einige von ihnen seien offensichtlich für Pornoaufnahmen nach Belgien gereist. Die Frauen, betont Gajdos, hätten freiwillig gehandelt, „sie sind unversehrt zurückgekommen“. Als die belgische Polizei die Häuser von Dutroux durchsuchte, fand sie rund 400 Homevideos, Pornofilme, ein Teil davon mit Kindern. Die Mädchen, von denen man weiß, daß sie von Dutroux entführt wurden, sind nicht dabei. Auf einigen Videos ist Durtroux selbst zu sehen, auf anderen seine Komplizen, von denen inzwischen einige in Untersuchungshaft sitzen. Dutroux betrieb das Geschäft mit den Kinderpornos nicht allein, mindestens acht Männer hat die Polizei im Verdacht. Dutroux' Frau, eine 36jährige Lehrerin, Mutter von zwei Kindern, soll die Kamera gehalten haben. Um diese Videos ging es, als Staatsanwalt Michel Bourlet den Eltern der entführten Kinder versprach, alle Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen. Er werde die Namen aller herausfinden, die sich auf den Videos an Kindern vergehen, „wenn man mich läßt“. Michel Bourlet hat das Land aufgerüttelt wie kaum jemand vor ihm. Denn daß die belgische Justiz nicht unabhängig ist, daß sie von Politikern mißbraucht wird, das hat jeder in diesem Land seit langem geahnt. Dafür gab es zahlreiche Hinweise bei Affären und Skandalen. Aber bisher haben die meisten Belgier das als gottgegeben hingenommen. Doch diesmal geht es um Kinder, um das Entsetzen, daß die Justiz einen Kinderschänder laufenläßt und die Polizei ihn auch dann nicht überwacht, wenn der Verdacht auf neue Untaten mit Händen zu greifen ist. Bourlet hat die schlimmsten Befürchtungen bestätigt, daß es nämlich Leute mit Einfluß gibt, denen anderes wichtiger ist als die Verfolgung eines Kinderschänders.

Dabei hat Bourlet sich auf frühere Erfahrungen bezogen, auf die Affäre um den ermordeten Sozialistenchef André Cools und auf den Skandal mit den gestohlenen Wertpapieren. Cools war 1991 auf offener Straße erschossen worden. Wie sich herausstellte, war Cools in eine Bestechungsaffäre verwickelt, dieselbe Affäre übrigens, die im letzten Jahr den Nato-Generalsekretär Willy Claes zu Fall brachte. Die italienische Rüstungsfirma Agusta hat für einen Großauftrag der belgischen Armee die beiden sozialistischen Koalitionspartner geschmiert. Die flämischen Sozialisten von Willy Claes bekamen damals 2,5 Millionen Mark, die wallonischen nur 700.000 Mark und den Rest in Wertpapieren. Doch dann fand Cools offenbar heraus, daß die Wertpapiere gestohlen und damit wertlos waren. Er drohte, den Schwindel aufzudecken. Einen Monat später war er tot. Bourlet war damals an der Sache mit den Wertpapieren dran. Er hatte bereits Verdächtige, doch plötzlich wurde ihm der Fall entzogen und an die Staatsanwaltschaft in Lüttich weitergegeben. Seither ist die Geschichte versandet.

Was Bourlet zu der Befürchtung veranlaßte, daß ihm das jetzt mit den Kinderschändern wieder passieren könnte, ist, daß einige Namen von damals heute wiederauftauchen. Dutroux war offensichtlich Mitglied einer organisierten Verbrecherbande, die sich mit Geschäften aller Art beschäftigte. Autoschmuggel vor allem, aber auch Wertpapierdiebstahl.

Bereits vor einem Jahr, kurz nach der Entführung von Julie und Melissa, erzählte ein Informant der Gendarmerie, daß Dutroux in seinem Keller in Sars-la-Buissiere Käfige für Kinder baue, daß Dutroux ihm 7.500 Mark für eine Entführung geboten habe. Die Gendarmerie gab diese Information nicht an die Kriminalpolizei weiter, sondern versuchte sich mit eigenen, letztlich erfolglosen Ermittlungen. Als die Kriminialpolizei im Frühjahr bei Dutroux eine Hausdurchsuchung machte, hörte sie sogar Kinderstimmen im Keller, ging dem aber nicht nach. Die Gendarmerie, eine kasernierte Polizei des Innenministers, rechtfertigt sich heute damit, daß es bei der Kriminialpolizei eine undichte Stelle gebe. Deshalb habe man auf eigene Faust ermittelt. Vor einer Woche nannte der Chef der Gendarmerie in Charleroi den Namen der undichten Stelle: Georges Zicot, der umgehend festgenommen wurde. Er soll Dutroux über die Ermittlungen auf dem laufenden gehalten haben. Doch die Festnahme wirft eine Reihe von Fragen auf. Zicot steht unter dringendem Verdacht, als Leiter der für Autodiebstähle zuständigen Stelle mit einer Autoschieberbande zusammengearbeitet zu haben, zu der auch Marc Dutroux gehört. Die Vorwürfe gegen Zicot, die nun zu seiner Festnahme führten, sind aber uralt. Warum kommen sie erst jetzt hoch? Warum hat die Gendarmerie, die dem Innenminister untersteht und mit der Kriminalpolizei im Dauerstreit liegt, Zicot erst jetzt angezeigt? Der Polizist Georges Zicot, so wird nun vermutet, kann unmöglich auf eigene Rechnung gearbeitet haben.

Im Zentrum der Verdächtigungen steht die Sozialistische Partei Walloniens, die in Lüttich seit Jahrzehnten unangefochten an der Macht ist. Die flämische Zeitung De Morgen deckte vor wenigen Tagen auf, daß einer der jetzt Verhafteten schon vor 14 Jahren für die Lütticher Sozialisten Schmiergelder aus der Schweiz geholt hatte. Damals ging es um einen überteuerten Grundstückskauf durch die wallonische Regierung, den sich die verantwortlichen Politiker vom glücklichen Verkäufer honorieren ließen. Der Geschäftsmann Jean-Michel Nihoul, der damals das Geld überbrachte, dieser Nihoul sitzt nun in Untersuchungshaft, weil er einer der Auftraggeber von Dutroux für Kinderpornos sein soll. Die Vorsitzende einer belgischen Kinderschutzorganisation, Marie-France Botte, hat den Verdacht, daß hohe Politiker selbst auf den Pornos zu sehen sind und deshalb die Ermittlungen behindern wollen. Die Wahrheit ist vermutlich einfacher. Die Politiker in Lüttich haben bei ihren Bestechungsaffären so oft auf die Dienste der örtlichen Mafia zurückgegriffen, daß es für sie gefährlich wäre, wenn Dutroux und andere auspackten. Deshalb haben sie immer wieder die Verhaftung hintertrieben. Alle Hoffnungen ruhen nun auf Staatsanwalt Michel Bourlet. Durch seine Anklage des politischen Systems vor laufenden Kameras ist er zum „Unberührbaren“ geworden. Seine Popularität macht ihn nahezu unantastbar. Niemand wird ihm mehr den Fall entziehen. Belgien wartet auf das politische Erdbeben.