Brückenschlag zum Nachbarn

Haitianische Wanderarbeiter sind in der Dominikanischen Republik Vorurteilen ausgesetzt. Das „Centro Puente“ bemüht sich um Verständigung  ■ Aus Neyba Ralf Leonhard

Schwitzend schiebt Louis Facilis das geschnittene Zuckerrohr auf dem Wagen zurecht, das ihm von Kollegen hochgereicht wird. Rundherum ist das Feld bereits abgeerntet. Wenn der Anhänger voll ist, kommt ein Traktor angefahren und bringt ihn zum Wiegen. Eine Ladung wird mit 70 bis 80 dominikanische Pesos bezahlt – nicht ganz neun Mark, der Tageslohn für zwei Männer.

Louis rechnet lieber in heimatlichen Gourdes, die werden an der Grenze 1:1 gewechselt. Seit 1961 kommt der Mann mit den weißen Bartstoppeln auf seinem zerfurchten schwarzen Gesicht aus dem heimatlichen Jacmel im Süden Haitis zur Ernte nach Neyba in der Dominikanischen Republik – ohne Familie, so kann er ein bißchen sparen. Doch für viel mehr als die Heimreise reicht es nicht. „Die Soldaten an der Grenze nehmen uns fast das ganze Geld ab“, klagt der 50jährige. Die meisten Wanderarbeiter haben keine Papiere und bekommen an der Grenze „vom Capitan“ ein „provisorisches“ Dokument ausgestellt. Die Grenzbeamten kassieren dann, was sie gerade wollen. Doch selbst wenn sie nur die normalen Gebühren erheben, wird eine Heimreise zum Luxus. An der dominikanischen Grenze werden von jedem Passanten zehn US-Dollar kassiert und auf der haitianischen Seite nochmal zwölf.

Louis Facilis lebt in einem Batey, wie man die Siedlungen der vorwiegend haitianischen Zuckerrohrschneider hier nennt. Sie wurden in den zwanziger Jahren von den US-amerikanischen Zuckerkonzernen eigens für die Wanderarbeiter gebaut. Viele von ihnen schaffen es nie, in die Heimat zurückzukehren. Die 60jährige Yoyouta wurde in Santa Maria, nahe der Grenze, als Tochter haitianischer Eltern geboren und ist im Batey 2 aufgewachsen. Obwohl sie Haiti nur aus Erzählungen kennt, wird zu Hause Kreol gesprochen; im Spanischen hat Yoyouta den Wortschatz einer Vierjährigen.

Die Hütten im Batey 2 sind in zwei gleich große „Zimmer“ zu je zwölf Quadratmetern unterteilt: ein Schlafzimmer für die ganze Familie und eine Wohnküche, wo der beißende Rauch des Holzkohlefeuers ins Palmdach aufsteigt. Den Rauch in der Hütte nimmt man in Kauf, er verscheucht die Insekten. Das Blechgeschirr hängt an der Wand, auf dem wackligen Tisch in der Ecke wird selten mehr als Reis mit Bohnen und gestampften Kochbananen serviert, manchmal etwas Ziegen- oder Schweinefleisch.

Ramon Batista ist der soziale Aufstieg gelungen: Er lebt im eleganten Teil des Batey 5. Zwar ist in seiner Behausung auch nicht viel mehr Platz, doch ist der Fußboden betoniert und die Wände sind aus Stein. Als er vor 48 Jahren zur Welt kam, herrschten noch strenge Sitten in den Bateyes. Das dominikanische Militär sorgte damals dafür, daß kein arbeitsfähiger Mann sich tagsüber in den Siedlungen aufhielt. Nicht mal am Sonntag durfte man sich vor Sonnenuntergang dort blicken lassen. Das in der Karibik so beliebte Baseballspiel war verboten.

Die Brutalität der Soldaten war gefürchtet. Noch keine 20 Jahre ist es her, daß die Uniformierten am Sonntag in die Kirche eindrangen und die Männer hinausprügelten. Ramon erinnert sich und bekommt Gänsehaut: „Einer konnte fliehen und in einer Hütte bei einer Schwangeren unterschlüpfen. Die Frau, die ihn nicht verriet, wurde so lange geschlagen, bis sie ihr Kind verlor.“

Heute gibt es legale Gewerkschaften, und selbst die haitianischen Wanderarbeiter dürfen sich organisieren. Doch an den Arbeitsbedingungen hat sich wenig geändert. Wie vor sechzig Jahren kommen Tausende Haitianer ins Nachbarland, und sie sind bereit, zu Bedingungen zu schuften, die während der Kolonialzeit einen Sklavenaufstand ausgelöst hätten.

Der Südwesten der Dominikanischen Republik ist von Haitis Hauptstadt Port-au-Prince weniger weit entfernt als von Santo Domingo; von Barahona und Neyba ist man in wenig mehr als einer Stunde an der Grenze. Es ist eine karge Gegend, teilweise durch salzigen Boden für die Landwirtschaft unbrauchbar. Die Zuckerplantagen sind heute in staatlicher Hand und wegen Korruption und Ineffizienz allesamt in den roten Zahlen. Dennoch ist die Zuckerindustrie nach wie vor der wichtigste Arbeitgeber der Region.

Der Süden der Dominikanischen Republik unterscheidet sich nur wenig von der haitianischen Seite. Die Dörfer und Bateyes sind genauso afrikanisch wie drüben. Ziegenfleisch, in pikanter Sauce bereitet, wird beiderseits der Grenze gern gegessen. Trotzdem: Menschen tiefschwarzer Hautfarbe, egal welchen Paß sie besitzen, gelten als Haitianer. Die mehrheitlich mulattischen Dominikaner grenzen sich gerne ab von ihren Nachbarn. Diktator Trujillo ließ in den vierziger Jahren deutsche Juden und spanische Republikaner ansiedeln, um „die Rasse zu verbessern“. Wenig vorher hatte er 12.000 haitianische Wanderarbeiter massakrieren lassen, um eine „Unterwanderung“ zu verhindern.

Auch heute noch ist die Grenze wie ein eiserner Vorhang der Vorurteile. Viele Dominikaner sind überzeugt, daß im Nachbarland Hexerei und Kannibalismus herrschen. Im Wahlkampf wiegt die Behauptung, Kandidat José Francisco Pena Gomez, der Sohn eines beim Massaker 1937 ermordeten Zuckerrohrschneiders, sei gar kein richtiger Dominikaner, schwerer als jedes politische Argument.

In Neyba ist vom Rassismus weniger zu spüren als in der Hauptstadt oder in der Metropole des Nordens, Santiago de los Caballeros. Das liegt nicht zuletzt an der Arbeit des „Centro Puente“, das sich den Brückenschlag zwischen beiden Völkern zur Aufgabe gemacht hat. Hier werden haitianische Nachrichtensendungen transkribiert und in einem monatlichen Rundbrief „Chronik der Situation in Haiti“ auch der spanischsprachigen Bevölkerung zugänglich gemacht. Auch in den Bateyes ist das Zentrum mit seinen Verbindungsleuten präsent.

Das Centro Puente, auf kreolisch „Sant Pon“, ist vor drei Jahren aus Radio Enriquillo, einem Regionalsender im 30 Kilometer östlich gelegenen Tamayo, hervorgegangen. Diese Gründung belgischer Missionare ist zum wichtigsten haitianisch-dominikanischen Verständigungsmittel geworden. Ursprünglich fungierte der Sender vor allem als Schule für die Landbevölkerung. Heute bringt er dreimal täglich Nachrichten und verschiedene Programme, bei denen der Bevölkerung Gestaltungsmöglichkeiten eingeräumt werden. Als Korrespondenten fungieren Freiwillige in den Dorfgemeinschaften. Übergriffe der Behörden und der Armee werden in der Redaktion gemeldet. Und in der Regel werden wahllos Festgenommene wieder freigelassen, wenn die Nachricht über Radio Enriquillo verbreitet wird.

Der dominikanischen Regierung war der Sender schon eine Weile ein Dorn im Auge. Als er dann nach dem Putsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Aristide im Oktober 1991 zu einem Sprachrohr des haitianischen Widerstandes wurde, schritten die Behörden ein. „Wir begannen damals die Nachrichten auch in Kreol zu lesen“, erzählt Oscar Acosta, einer der dienstältesten Redakteure, „denn man kann uns bis Port-au- Prince empfangen.“

Der Radiodirektor, der Belgier Pierre Riquoit, ist ein enger Vertrauter des ehemaligen Salesianerpaters Aristide, während der dominikanische Präsident Balaguer und seine Armee die haitianischen Putschisten unterstützten und ihnen halfen, das internationale Ölembargo zu unterlaufen. Als das Kommunikationsministerium die kreolsprachigen Sendungen verbot, „begannen wir die Informationen zu singen“. Oscar Acosta schmunzelt. Einige der „subversiven“ Gesänge, mit denen sie das Ministerium ein paar Wochen narren konnten, wurden als historische Dokumente aufbewahrt. Da werden Nachrichten als Country- Song verpackt, von Padre Pierre Riquoit mit Gitarrenbegleitung vorgetragen oder ein Kommuniqué des haitianischen Botschafters in Kanada ins Mikrophon gepfiffen. Es dauerte jedoch nicht lange, bis der ministerielle Bannstrahl auch die rhythmischen Durchhalteparolen traf.

Aber die Programmgestalter ließen es sich nicht nehmen, den Schmuggel von Treibstoff und Nahrungsmitteln, mit dem viele Militärs und Funktionäre sich während des Embargos goldene Nasen verdienten, anzuprangern. Während kleine Schmuggler verfolgt wurden, konnten die großen Fische ihre Waren ganz offen über die Grenze schaffen und dem Putschregime den wirtschaftlichen Zusammenbruch ersparen. Nach der Rückkehr Aristides im Oktober 1994 erübrigte sich die Ätherbrücke, und auch das Schmuggelgeschäft war über Nacht zu Ende.

Im März diesen Jahres wurde sogar Aristides Nachfolger René Preval als erster haitianischer Staatschef in mehr als 50 Jahren im Nachbarland empfangen. Der greise Joaquin Balaguer hat verstanden, daß die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem ungeliebten Nachbarn auch im dominikanischen Interesse liegt. So hoffen etwa die dominikanischen Bauunternehmen auf Aufträge von drüben, wo in den nächsten Jahren viele Millionen internationaler Hilfe in den Ausbau der unterentwickelten Infrastruktur fließen werden. Die Grenze dürfte dann nach beiden Seiten durchlässiger werden.