Was, wenn wir jetzt doch nicht sterben?

HIV-Infizierte denken an den Tag X, wenn Aids behandelbar wird. Therapiefortschritte provozieren eine ungewöhnliche Diskussion auf der 7. Bundes-Positivenversammlung in Leipzig  ■ Von Manfred Kriener

Nur zögernd und voller Mißtrauen wagen die HIV-Infizierten in Deutschland das Unmögliche zu denken. Was ist, wenn wir jetzt doch nicht sterben? Was wird, wenn sich Aids tatsächlich zu einer „ganz normalen“, behandelbaren Krankheit entwickelt? „Mühsam hat man sich in all den Jahren ans Sterben gewöhnt – und jetzt?“ Die aufregendste Diskussion auf der siebten Bundes-Positivenversammlung am Wochenende in Leipzig trug manchmal schon groteske Züge. Eine kräftige Portion pechschwarzen Humors gehörte dazu. Es ging um die veränderte Lebensperspektive für die 50.000 deutschen HIV-Infizierten nach den ermutigenden Ergebnissen der Weltaidskonferenz in Vancouver.

Vancouver, immer wieder Vancouver. Die kanadische Stadt ist zu einer schillernden Metapher geworden. Vancouver steht für die Hoffnung, für den Aufbruch der Medizin, die mit der neuen Kombinationstherapie aus neun Arzneimitteln dem Schreckensvirus HIV endlich das Fürchten lehrt und Aids möglicherweise zu einer beherrschbaren Krankheit macht. Noch ist es nicht soweit, aber die Überlebenschancen wachsen. Vielen Infizierten geht es erheblich besser. Und in den USA sind bereits weitere 15 Medikamente im Zulassungsverfahren. „Wie zuckerkrank“ stellte sich eine Leipziger Diskutantin das HIV-infizierte Leben in einigen Jahren vor. Man schluckt jeden Morgen seinen antiviralen Chemiecocktail und feiert dann irgendwann seinen 80. Geburtstag.

Doch erstaunlicherweise produziert die Aussicht auf ein Doch- Noch-Überleben der Aidskrise alles andere als Frohsinn. Das Erschrecken vor dem plötzlichen Gesundwerden? Nicht nur: Da sind zum einen die Freunde, die gestorben sind, da ist die „Fließbandtrauer“ vor allem in der homosexuellen Szene, das Trauma von Aids. Was das Virus angerichtet hat, „die Trauer, die Tiefe des Erlebens, das wird bleiben“, sagte die Wuppertaler Aidshelferin Cory Tigges. Und das dämpft die Freude.

Da ist aber auch das jahrelange Ringen, in dem die Infizierten verzweifelt versucht haben, sich mit ihrer kurzen Lebensspanne abzufinden. Der Essener HIV-Referent Ralf Rötten: „Jetzt steht plötzlich diese ganze Masse an Leben vor einem, das ist ein echtes Problem.“

Viele haben Beruf und Studium aufgegeben, sind „glückliche Rentner“ geworden. Die Ersparnisse sind verbraten, die großen Weltreisen gemacht. Man hat sich auf fünf, höchstens zehn Jahre eingerichtet, man hat „alles“ erledigt. „Ich muß jetzt vielleicht tatsächlich ein alter Schwuler mit sechzig Jahren werden“, sagte ein Teilnehmer. Ein anderer sieht sich schon im Vorstellungsgespräch beim neuen Arbeitgeber. „Guten Tag, ich war zehn Jahre lang HIV-Rentner, können Sie mich bitte nehmen!“ Da wurde endlich gelacht.

Weniger lustig ist die Sorge vieler, daß tatsächlich bald die sozialen Unterstützungen gekürzt werden. Sollte sich die – vorschnelle – Meinung durchsetzen, daß Aids jetzt nicht mehr so schlimm ist, werde womöglich eine neue Diskriminierungswelle einsetzen: „Ihr Schmarotzer, ihr seid doch gar nicht so krank, genau damit werden sie uns an den Karren pissen“, warnte eine Junkiefrau. Die große Kraftprobe werde kommen. In Thüringen sind bereits Gelder für die Aidshilfen mit Hinweis auf den medizinischen Fortschritt gestrichen worden.

Unbehagen bereitet den „Positiven“ aber auch die Aussicht auf lebenslängliches Tablettenschlucken. „Wenn mein Virus verschwunden ist, ist die Leber kaputt“. Schon deshalb bleibe die Lebenserwartung für die Infizierten reduziert. Immer wieder wurden die „Medizinmaschinerie“ und die Giftcocktails mit ihren Nebenwirkungen beschworen. Die Ablehnung der antiviralen Medikation bei einigen der 600 Teilnehmer ging soweit, daß dem Berliner Aidshelfer Lars Vestergaden der Kragen platzte. Während jeder Infizierte in Afrika heilfroh wäre, eines der Medikamente zu bekommen, werde hier die große Jeremiade angestimmt. „Wir sind nicht in Kuba“, rief er den Medizinkritikern zu. Jeder könne doch frei entscheiden, ob er sein Virus mit Brennesseltee oder mit Pillen bekämpfe.

Ähnlich heftig reagierten andere „Positive“: Für sie enthielt die Diskussion zuviel Zukunft und zuwenig Wirklichkeit. Hartnäckig erinnerten sie daran, daß noch viele an Aids sterben, daß der Überlebenskampf noch lange nicht gewonnen ist. Noch wisse niemand, wie die Langzeitwirkung der Medikamente aussehe. Vielleicht werde das Aidsvirus auch die neuen Arzneien austricksen.

Die Leipziger Diskussion offenbarte das Mißtrauen vieler Infizierten. Zu oft haben sie vergebliche Hoffnungen investiert, zu oft glaubten sie den Erfolgsmeldungen, die sich dann doch als Flop erwiesen. Bloß keine neuen Enttäuschungen, lautet die berechtigte Skepsis. Dennoch hatten die Veranstalter der Deutschen Aidshilfe die neue Überlebensperspektive mutig auf die Tagesordnung gesetzt. Und kein anderer Arbeitskreis zählte mehr Teilnehmer als der über den „Tag X“, an dem das Aidsvirus HIV besiegt sein wird.

Angetippt wurde noch eine andere, dramatische Konsequenz. Sollte Aids tatsächlich beherrschbar werden, verschwände auch die Todesdrohung und damit der Zwang zu Safer-Sex. Eine neue Infizierungswelle könnte folgen. Schon heute fällt den Langzeitinfizierten die Kondompflicht zunehmend schwerer. Die Lust auf „richtigen Sex“ wächst. Daß die Aidshilfen irgendwann überflüssig werden – auch dies wurde in Leipzig schon mal angedacht –, scheint angesichts solcher Aussichten eher abwegig.

Einem Rostocker Arzt gebürt das Schlußwort: „Wir im Osten haben schon einmal einen Tag X erlebt. Damals kam die Wende und die D-Mark als Wunderdroge. Seitdem bin ich vorsichtig – mit dem Tag X und allen Arten von Wunderdrogen“.