Jeder vierte geht leer aus

■ Hohe Ablehnungsquote bei stationärer Pflege. In den Heimen führt die niedrige Einstufung von Patienten zu Entlassung von Personal. Einsparungen für den Landeshaushalt viel geringer als erwartet

Kalter Schauer statt warmem Geldregen: Rieb sich vor zwei Jahren die Sozialverwaltung in Erwartung satter Einsparungen durch die Einführung des Pflegeversicherungsgesetzes die Hände, ist jetzt klargeworden, daß statt der erhofften 139 Millionen im Jahr 1995 nur 57,5 Millionen Mark eingespart werden konnten.

Denn die Einschätzung, daß die Hälfte der Pflegebedürftigen, deren Pflege vom Sozialamt bezahlt wurde, künftig Leistungen der Pflegeversicherung beziehen würde, mußte deutlich nach unten korrigiert werden: Nur bei 30 Prozent sprang die Versicherung ein.

Und auch bei denen, die Leistungen der Pflegeversicherung erhalten, muß häufig das Sozialamt zubuttern, weil die Versicherung nicht den gesamten Pflegebedarf abdeckt. „Von unseren ambulanten Pflegestationen wissen wir, daß immer noch 45 Prozent der Leistungen über die Sozialhilfe abgedeckt werden müssen“, sagte Angelika Christ vom Paritätischen Wohlfahrtsverband. Auch die Kreuzberger Sozialstadträtin, Ingeborg Junge-Reyer (SPD), konstatierte, daß die Bezirke weiterhin ergänzend Hilfe zur Pflege zahlen müßten, „und zwar wesentlich mehr als erwartet“.

Die ernüchternden Zahlen über die tatsächlichen Einsparungen entstammen der 80seitigen Antwort von Sozialsenatorin Beate Hübner (CDU) auf die Große Anfrage der PDS-Fraktion „zur Einführung und Umsetzung der Pflegeversicherung in Berlin“. Für Dietmar Volk, sozialpolitischer Sprecher der Bündnisgrünen, ist diese Antwort nichts als „eine große, schlappe Gummimatte“.

Bekanntlich setzt das Einstufungsverfahren eine recht hohe Pflegebedürftigkeit voraus. Die Folgen sind „verheerend“, so der Bündnispolitiker. So habe beispielsweise die Einstufung nach den Vorgaben des Pflegeversicherungsgesetzes in einem Heim der „Gesellschaft für soziale Dienste“ dazu geführt, daß von 125 Patienten nur 14 von den Pflegekassen weiter unterstützt werden. Für das Heim bedeute dies wesentlich geringere Einnahmen, die nur durch Entlassungen kompensiert werden könnten. Weniger Pflegepersonal ist aber gleichbedeutend mit einer schlechteren Versorgung der Kranken. Für den Bündnisgrünen Dietmar Volk ist klar: „Das Ziel ist ganz offensichtlich, auf diesem Weg die Pflegeeinrichtungen zu verkleinern.“

Eine Statistik der Sozialverwaltung über den Zeitraum April 1995 bis Juli 1996 ergab außerdem, daß bei der Einstufung der Pflege-Antragsteller die Ablehnungsquote in Berlin im bundesweiten Vergleich besonders hoch ist: 45 Prozent der Anträge auf ambulante Pflege (Hilfeleistungen bei den Verrichtungen des alltäglichen Lebens zu Hause) wurden abgelehnt und nur 7Prozent der Antragsteller als „Härtefälle“ (Rund-um-die-Uhr- Betreuung) in die Pflegestufe III eingestuft.

Zum Vergleich: In der restlichen Bundesrepublik besteht bei der ambulanten Pflege eine um 20 Prozent niedrigere Ablehnungsquote. Im Bereich der stationären Pflege nähert sich Berlin mit einer Ablehnungsquote von 25 Prozent schon eher dem Bundestrend. Nur bei der höchsten Pflegestufe liegt Berlin mit einer Anerkennungsquote von 21 Prozent leicht unter dem Bundesdurchschnitt von 24,4 Prozent.

Ist das Einstufungsverfahren in Berlin besonders restriktiv? Dr. Hans Lange, Mitglied der Geschäftsführung des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen, betonte, daß sämtliche Gutachten nach bundeseinheitlichen Richtlinien durchgeführt würden. „Oft wird aber übersehen, daß die Einstufung in die Pflegeversicherung nach anderen Gesichtspunkten vorgenommen wird als früher nach dem Sozialhilfegesetz“, meint Lange.

Der Medizinische Dienst der Krankenkassen ermittele eben nur den „tatsächlichen Pflegebedarf“, und dieser wiederum ergebe sich aus der Unfähigkeit, bestimmte grundlegende Verrichtungen des alltäglichen Lebens meistern zu können. „Da kann es durchaus passieren, daß ein Blinder keinen Anspruch auf die Pflegeleistung der Kassen erhält, weil er eben noch in der Lage ist, sich täglich selbständig zu waschen und alleine zu essen.“ Eva Behrendt