■ Wenn die Erzählvorräte zur Neige gehen
: Kirchenglocken in Indien

Der Mann, der mir den Anlaß lieferte, diese Zeilen zu schreiben, ist mit mir verwandt. Sehr nah verwandt. So nah sogar, daß er mich seinerzeit im Auftrage meiner Mutter, die ihn zum Ehemann nahm, als seinen Sohn beim Standesamt anmelden durfte.

Mein naher Verwandter verbringt einen nicht unwesentlichen Teil unserer gelegentlichen Zusammenkünfte damit, mich mit Neuigkeiten aus dem dörflichen Alltag jenes Vorörtchens zu versorgen, in dem ich 18 Jahre lang das tat, was man Heranwachsen nennt. Da sich in diesem kleinen Ort nun aber nicht dauernd soviel Sensationelles tut, daß die harten Fakten allein für, sagen wir mal, wöchentlich drei Stunden Netto- Erzählstoff reichten, geht mein Verwandter gerne auch mal mit dem Lockenstab an die Glatze und frisiert in immer neuen Ausschmückungen ein und dieselbe Nachricht solange, bis sie am Ende unserer Treffen als Basis für im Mittel fünf unabhängig voneinander funktionierende Geschichten gedient hat.

Skeptischen Einwänden meinerseits, er habe mir diese oder jene Begebenheit doch schon desöfteres ganz anders, etwa mit anderen handelnden Personen und mehrmals wechselnden Zeit- und Ortsangaben unter die Weste gejubelt, begegnet mein Verwandter entweder mit scheinheiliger Unschuld – „Nein, da mußt du aber was ganz falsch verstanden haben“ – oder aber, noch schlimmer, mit gewissenlos vorgetäuschten Anfällen von Altersgebrechlichkeit – „Ach, weißt du, der Alzheimer...“

Diese infame, von unübersehbar nach innen grienender Genußsucht begleitete Technik, das eigene Fleisch und Blut, wie mein Verwandter sagen würde, „zu vernatzen“ und allzu massiv aufkeimenden Widerspruch mit unverhohlen plump eingeforderter Beachtung des elterlichen Ehrungsgebotes zu ersticken, diese Technik droht neuerdings in einem nicht für möglich gehaltenen Ausmaß zu eskalieren.

Es begab sich nämlich vor Dreijahresfrist, daß mein naher Verwandter für eine Weile seinen dörflichen Mikrokosmos verließ, um auf einer ausgedehnten Schiffskreuzfahrt neue Eindrücke und – wie sich jetzt im nachhinein immer deutlicher zeigt – neue Erzählvorräte einzusammeln.

Diese Schätze wurden in bester Eichhörnchenmanier lange Zeit nur als Notreserve eingesetzt. Selbst ausdauerndste Verhöre über Pyramidenbesichtigungen in Ägypten oder Ausflüge in die Wüste von Oman erzielten anfangs nur höchst unergiebige Antworten wie „Ja, hab' ich auch gemacht“ oder „war ganz schön da“.

Als sei diese Reise von Piräus nach Sri Lanka für einen Weltbürger wie ihn nun wirklich nicht der ausführlichen Rede wert, fabulierte mein Verwandter lieber weiterhin und unermeßlich phantasievoll über die wirklich schicksalhaften Ereignisse in seinem Wohndorf.

Etwa, daß „der Emil beim Fellversaufen nach der Beerdigung vom Günther, weißt du, der damals am Markt die Bäckerei hatte, nachts um zwei ziemlich angeschlagen ein Taxi“ bestellen ließ und „sage und schreibe eine Dreiviertelstunde darauf warten mußte, eine Dreiviertelstunde, das mußt du dir mal vorstellen!“

Und erst, wenn ich den eigensinnigen Erzähler höflich, aber hartnäckig und unerbittlich in die Enge getrieben hatte, erst wenn ich ihm in aller Deutlichkeit vor Augen geführt hatte, daß laut Märchenstunde vor einer Woche exakt dieser betrunkene Emil noch selbst im Grab gelegen hatte und im Gegenteil Günther, der ehemalige Bäcker, welcher übrigens bis zur Dönekes-Saison 92/93 immer das ehrbare Handwerk des Metzgers ausgeübt hatte, zum Schluß des Emilschen Fellversaufens taxireif war, dann aber von Marion, seiner Ehefrau, mit dem eigenen PKW abgeschleppt wurde (an dieser Stelle muß der variierenden Versionen wegen eine Klammer eröffnet werden, denn das Fahrzeug der Eheleute Günther und Marion hatte auf der besagten Rückfahrt a) einen Reifenschaden, b) eine Kollision mit dem Dienstwagen des ebenfalls von der Beerdigungsfeier abreisenden Dorfpolizisten Rudi und c) eine elektronische Wegfahrsperre, deren Zahlencode nur Günther bekannt war und den er in seinem hilflosen Zustand nicht mehr rekonstruieren konnte. Aufmerksamen Lesern fällt hier natürlich sofort auf, daß Frau Marion, stimmte Version c), das Auto niemals bis zum Ort der Begräbnisnachfeier hätte bewegen können. Klammer zu!), erst also, wenn die ganze Haltlosigkeit dieser bis zur Unkenntlichkeit recycelten Geschichte nicht mehr zu leugnen war, erst dann brach mein naher Verwandter notgedrungen und bis in die Eingeweide grinsend die eisernen Vorräte der Schiffskreuzfahrt an.

Das alles liegt, wie gesagt, schon ein Weilchen zurück, und man kann sich nach dem bisher Geschilderten wohl denken, daß selbst das Weltreisenreservoire nun langsam so aufgebraucht ist, daß es zwangsläufig zu der bereits angedeuteten Eskalation kommen mußte. Eine Eskalation, deren einzelne Stufen ich Ihnen jetzt ersparen will, deren überwältigend phantastisches Ausmaß aber anschaulich wird, wenn ich ganz kurz den zur Zeit gültigen Stand anreiße. Ein Stand, der, wie zu befürchten steht, nur den vorläufigen Höhepunkt darstellt.

Momentan ist es nämlich so, daß „die Kirchenglocken in Indien deswegen so unglaublich laut und von morgens bis abends läuten, weil dort zu Ehren des Zeus, der, auf einem Esel reitend, auf Kreta nach Öl gebohrt hat, ähnliche Feste gefeiert werden wie zu Füßen der Pyramiden von Gizeh, die derselbe seinerzeit ja mit dem Pferd bestieg.“

Seitdem ich diese Geschichte aus dem Munde meines vor schierer Wollust zu platzen drohenden nahen Verwandten vernahm, trage ich mich mit dem Gedanken, ihn zu einer neuerlichen Kreuzfahrt zu überreden. Ich bin überzeugt, daß die Mythenwelt Nordeuropas gute Ergebnisse liefern wird. Fritz Eckenga