Der feine Paul

■ Elegant, streitbar und respektlos: Heute vor fünfzig Jahren starb der Musiker und Dirigent Paul Lincke, der unzählige Berliner Schlager und Operetten komponierte

„Im Himmel, Venus- Ecke Milchstraßenallee. Ich finde es reizend, daß Sie meiner so herzlich gedenken. Da Petrus hier einen Rundfunkempfänger hat, werde ich auch weiter mit Vergnügen meine Musik von hier oben mit anhören.“ Diese Postkarte schrieb Paul Lincke 1938 an einen Radiosender, der das Konzert zum Geburtstag des Komponisten versehentlich als Gedenkkonzert angekündigt hatte.

Damals war Lincke schon eine Legende. Er dirigierte zwar noch viele Aufführungen seiner Werke, komponierte aber vor seinem Tod nur noch den Marsch: „Wenn du Lust hast ...“, den er nachträglich in seine erste Operette „Venus auf Erden“ einfügte. Man könnte sagen, Lincke sei zu seinen Anfängen zurückgekehrt — wenn sich sein Stil im Laufe seines langen Lebens überhaupt verändert hätte.

Aber Paul Lincke blieb seinem Erfolgsrezept immer treu. Seine Stücke waren nie raffiniert, sondern entweder so schmissig wie der berühmte Marsch „Berliner Luft“ oder so sentimental wie das „Glühwürmchen“-Idyll. Die zugkräftigen Melodien zum Mitsingen strömten ihm nur so zu. Wie viele er komponiert hatte, wußte Lincke am Ende selbst nicht so genau; nach der Opuszahl zweitausend zählte er nicht mehr mit.

Paul Lincke wurde am 7. November 1866 in der Berliner Spandauer Vorstadt geboren. Die Mutter, eine Beamtenwitwe mit schmaler Pension, gab den musikbegeisterten Jungen mit 14 Jahren bei der Stadtpfeiferei von Wittenberge/Elbe in die Lehre. Bei dieser traditionellen Musikantenzunft lernte Paul Bratsche, Trompete, Oboe, Fagott, Klavier und Schlagzeug, spielte zu Schlachtefesten und Kaisers Geburtstag auf. Nach vier Jahren zog er zurück nach Berlin und wurde Fagottist in einem zweitklassigen Varieté.

Paul Linckes rasanter Aufstieg ist auch seinem ausgeprägten Showtalent zu verdanken. Als der blendend aussehende junge Mann seinen erkrankten Dirigenten vertrat, wurde er vom Fleck weg als Kapellmeister beim konkurrierenden Ostend-Theater verpflichtet. Lincke dirigierte mit Verve und viel Sinn für Effekt und wurde als „Schaudirigent“ von Freiluftkonzerten populär. Seine Eleganz brachte ihm den Spitznamen „der feine Paul“ ein. 1889 schrieb er seinen ersten Schlager „Ach Schaffner, lieber Schaffner“ — der Sage nach in einer Skatpause in seinem Stammcafé. Den Text lieferte der Skatfreund Heinz Bolten-Baeckers, mit dem Lincke über Jahrzehnte zusammenarbeitete. Ihre Gassenhauer wurden schon bald von allen Berliner Leierkastenmännern gespielt, auch wenn die Musikkritik über Linckes „billige Chansonfabrik“ höhnte.

Die Altberliner Posse hatte abgewirtschaftet, Pariser und Wiener Operetten waren aus der Mode gekommen, als Paul Lincke aus der Verbindung der beiden Gattungen etwas Neues schuf. In „Venus auf Erden“, 1897 uraufgeführt, besuchen die olympischen Götter Berlin. Der große Publikumserfolg verschaffte ihm ein Engagement an die Pariser Folies Bergères. Zwar mißbilligten die Pariser Linckes prächtigen „Es ist erreicht“- Schnurrbart, seine Musik jedoch fand großen Anklang. Nach der Rückkehr nach Berlin 1899 komponierte Lincke innerhalb weniger Wochen seine berühmteste Operette „Frau Luna“, in der der Berliner Fritz Steppke mit seiner Zimmerwirtin Pusebach zum Mond reist. Den sensationellen Erfolg des Stücks, das im Apollo-Theater an der Friedrichstraße herauskam, hat Lincke nie wieder erreicht — nicht einmal mit der Ausstattungsoperette „Im Reiche des Indra“, die am Silvesterabend der Jahrtausendwende uraufgeführt wurde. Von den Tantiemen kaufte sich der Komponist ein Haus in der Oranienstraße. Zusammen mit Richard Strauß (auch er ein Skatfreund Linckes) setzte er sich für die Urheberrechte von Komponisten ein — seine Initiative führte schließlich zur Gründung der Gema.

In „Lysistrata“ verulkte Lincke mit dem Marsch „Donnerwetter — tadellos“ den Dünkel der preußischen Offiziere. Daß der Kronprinz das mild satirische Stück besuchte, wurde ein publikumswirksamer Skandal. Nach dem Ersten Weltkrieg war Linckes große Zeit vorbei, das Publikum hörte nun lieber Onestep und Charleston. Lincke versuchte sich erfolglos an Filmmusik und an einer Verjazzung seiner Schlager. Erst als 1928 die ersten Rundfunksendungen ausgestrahlt wurden, die sich vor allem an ältere Leute richteten, feierte er ein Comeback.

Daß die Nazis alle großen Unterhaltungskomponisten außer Lincke und Lehr vertrieben, machte ihn noch populärer. Paul Lincke unterstützte das Regime zwar nicht, distanzierte sich aber auch nicht ausdrücklich. Seine Gute-Laune-Schlager dienten als Durchhaltelieder, Linckes 75. Geburtstag wurde mit viel Pomp gefeiert, der Komponist zum Berliner Ehrenbürger ernannt. Vor den Luftangriffen auf Berlin floh er nach Marienbad und feierte dort letzte große Erfolge als Schaudirigent. Nach Kriegsende durfte er in die westlichen Besatzungszonen reisen, zunächst jedoch nicht nach Berlin.

Am 3. September 1946 starb Paul Lincke an einer Lungenentzündung in Hahnenklee im Harz. Bis heute erfreut sich der Kurort eines regen Zustroms betagter Fans. Jetzt soll auch die Jugend wieder für den berlinischsten aller Komponisten gewonnen werden: Heute wird eine Berliner Grundschule in „Paul-Lincke-Schule“ umbenannt. Miriam Hoffmeyer