Scherben, die (vorerst) Letzte

Garantiert kein Versuch, mit dem Tod einen schnellen Deal zu machen: „Live II“, schlicht betiteltes Dokument eines Scherben-Konzerts von 1984 (erhältlich über den Indigo-Vertrieb, Tel. (040) 7524990), stand gerade in den Läden, als Rio Reiser am Dienstag vor zwei Wochen überraschend starb. Überhaupt war ja cleveres Eigenmarketing nie so sehr das Ding der Band, die sich in wechselnder Besetzung um Reiser und Gitarrist Lanrue herumgruppierte, bis 1986 ein gewisses Scheitern eingestanden werden mußte und der harte Kern sich verschuldet auf einen mit den letzten Kröten erstandenen Bauernhof nahe dem Dänischen zurückzog – enttäuscht über „die Industrie“, die „Szene“, den Verlauf der antiautoritären Bewegung.

„Mit jedem Tag, mit jeder Stunde und Minute wurde uns klarer, bei welchem falschen Spiel wir mitspielen sollten, ohne das Recht, die Karten zu mischen“, heißt es über diese Endphase in Reisers Memoiren. „Live II“ zeigt also gewissermaßen das letzte Aufgebot: Neben Reiser, Lanrue und Kai Sichtermann an Baß und Trompete Klaus „Funky“ Götzner am Schlagzeug, Dirk Schlömer als zweiter Gitarrist und Martin Paul an den Keyboards. Zu hören ist eine Band, die das Wissen, irgendwie auf verlorenem Posten zu stehen, historisch und auch sonst, zu zartesten, federndsten, machtverachtendsten, ja Trompeten-von-Jerichoesken Walls of Sound anspornt: das Hölderlin-inspirierte „Wenn die Nacht am tiefsten“ als Opener, „Land in Sicht“ als Ausguck am Ende, dazwischen aber auch weniger bekanntere Scherben-Titel wie „Steig Ein“, „Bist du's“ oder „Wir müssen hier raus“. Unschätzbares Dokument, das aber – wahrlich, wahrlich, ich sage euch – auch 1:1 noch zu rühren vermag.

Apropos „Wir müssen hier raus“: Blixa Bargeld hat neulich gesagt, die Einstürzenden Neubauten, die ja als Berliner Kellerkinder oft mit den Scherben verglichen wurden, seien nie Avantgarde gewesen, sondern – um in der militärischen Rhetorik des Begriffs zu bleiben – Deserteure; Deserteure aber hätten nur eine Alternative: Partisanen werden oder sich in die Wälder zurückziehen. Rio Reiser hat für ausweglose Lagen einen populärbuddhistischen Sinnspruch parat gehabt, der eher mit Kochen und Köchen zu tun hat: „Wem es in der Küche zu heiß wird, der verlasse sie.“ tg