Der moralische Tiefpunkt der deutschen Justizgeschichte

■ Fritz Bauer, hessischer Generalstaatsanwalt, brachte im "Euthanasie-Prozeß" die NS-Justiz vor Gericht. Das Verfahren wurde mit dubioser Begründung eingestellt

Die Tötung von Behinderten und Kranken war auch im Dritten Reich rechtswidrig. Theoretisch gab es sogar einen Rechtsschutz für Behinderte. „Es gab nur keine Juristen mehr, die es wagten, diesen Rechtsschutz im Interesse der Opfer und der potentiell Gefährdeten umzusetzen“, faßt Michael Förster die Situation im eben erschienenen Buch über dieses beschämende Kapitel deutscher Justizgeschichte zusammen. In der sogenannten Aktion T4 wurden von 1940 bis 1941 etwa 70.000 Menschen in sechs Tötungsanstalten vergast. Über 200.000 Menschen fielen von 1939 bis 1945 dem Krankenmord zum Opfer.

Die Bestrebungen, die Tötung von Behinderten gesetzlich zu legitimieren, verwarf Hitler 1940 aus politischen Gründen. Er konnte nicht mit der Akzeptanz der Bevölkerung rechnen. Der vom Direktor des Fritz Bauer Instituts, Hanno Loewy, und von Bettina Winter herausgegebene Band dokumentiert präzise, wie es den Nationalsozialisten dennoch gelang, ihr Tötungsprogramm durchzuführen – und zwar ohne von der Justiz dabei nennenswert behindert zu werden. Schritt für Schritt verwandelte sich der „Normenstaat“ in einen „Maßnahmenstaat“, der sich seinen eigenen Gesetzen nicht mehr verpflichtet sah.

Die Tötung von Behinderten konnte aber auch in diesem „Doppelstaat“ nicht lange verborgen bleiben. Michael Förster beschreibt das Dilemma, das sich für die Juristen ergab: Das Gesetz gebot ihnen, das Leben aller Menschen zu schützen und auf die Anzeigen von Angehörigen hin, die nicht an den natürlichen Tod eines behinderten Verwandten glaubten, Ermittlungsverfahren einzuleiten. Damals erhielten die Gerichte viele dieser Eingaben von hinterbliebenen Angehörigen, die sich nicht mit den Standardbriefen der sogenannten „Trostbriefabteilung“ zufriedengeben wollten.

Am 23./24. April 1941 lud deshalb das Reichsjustizministerium alle 34 Oberlandesgerichtspräsidenten und alle 34 Generalstaatsanwälte zu einer Tagung nach Berlin. Einziger Zweck der Veranstaltung: Staatssekretär Schlegelberger reichte einen „Ermächtigungserlaß“ Hitlers in Sachen „Gnadentod“ herum und wies die teilnehmenden Juristen an, alle Eingaben und Strafanzeigen im Zusammenhang mit der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ unbearbeitet an das Reichsjustizministerium weiterzuleiten. So sollten sie die Tötungsaktion von Störungen abschirmen. Weder auf dieser Konferenz noch später widersetzten sich die Juristen der Aufforderung zum Rechtsbruch.

1965 eröffnete der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer ein Verfahren, in dem er allen noch lebenden Teilnehmern der Konferenz von 1941 wegen Beihilfe zum Mord den Prozeß machen wollte. Exemplarisch für die Schreibtischtäter, die zwischen den Schaltstellen der Macht und den unmittelbar Mordenden ihre Funktion erfüllt hatten, standen die Juristen wegen Beihilfe zum Mord in 71.088 Fällen vor Gericht. Fritz Bauers im Buch abgedruckte Anklageschrift gegen zwanzig führende NS-Juirsten gilt heute als eines der bedeutendsten Dokumente zur Rechtsgeschichte in der Bundesrepublik.

Den Prozeßverlauf und die Umstände, die zum Mißlingen führten, beschreibt detailliert Helmut Kramer. Für ihn ist dieses Kapitel der moralische Tiefpunkt der deutschen Justizgeschichte. Bauer, dessen Engagement in der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen in der deutschen Nachkriegsgeschichte einmalig blieb, starb im Juni 1968 unerwartet, das Verfahren wurde 1970 eingestellt. Die Staatsanwaltschaft unterließ es, die Öffentlichkeit zu informieren. Bekannt wurde die Einstellung des Strafverfahrens erst 1984 durch einen Aufsatz von Kramer.

Der Versuch, NS-Juristen für ihren Beitrag zur „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ zur Verantwortung zu ziehen, ist weitgehend gescheitert. Dieses erste Buch in der Wissenschaftlichen Reihe des Instituts, das Fritz Bauers Namen trägt, zeigt aber, daß die von ihm begonnene Arbeit durch Aufklärung fortgeführt werden kann. Christiane Haas

Hanno Loewy/Bettina Winter (Hrsg.): „NS-,Euthanasie‘ vor Gericht. Fritz Bauer und die Grenzen juristischer Bewältigung“. Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts, Band 1. Campus Verlag, 1996, 199 Seiten, 38 DM