■ Das Lehrstellendesaster zeigt: Es gibt noch kein Konzept für Bildung und Lehre in der postindustriellen Gesellschaft
: Abschied von der Paukschule

Großes Gedrängel und Geschrei auf dem Bahnhof. Am 30. September ist für vermutlich 180.000 Schulabgänger der Zug abgefahren. Wer bis dahin keine Lehrstelle gefunden hat, findet keine mehr, kommt vielleicht in „Maßnahmen“ unter oder wird sich jenseits der Gleise auf eigene, oft verschlungene Wege begeben müssen. Aber die krude Entweder-Oder-Logik der Industriegesellschaft bricht. Entweder schon mit der Ausbildung ein für allemal auf die richtigen (oder falschen) Schienen gesetzt oder einer oft höllischen Autodidaktik ohne jeden Mentor ausgesetzt – dieses Muster löst sich auf.

Aber die Zeiten sind nicht gut für den Blick zum Horizont. Panik kommt auf. In den neuen Bundesländern wird nur noch für jeden siebten Bewerber eine Lehrstelle angeboten. In Ostberlin kommen sogar 18 Jugendliche auf einen freien Platz. Selbst im reichen Hamburg stehen die Chancen jetzt zwei zu eins gegen die Schulabgänger. So erleben wir die Flucht in die bekannten Sprüche, den täglichen Politikersatz. Selbst der Kanzler tut empört: „Wenn ein Land, das zu den reichsten der Welt gehört, nicht in der Lage ist, den jungen Leuten Ausbildungsplätze zu garantieren, ist das eine Schande für Deutschland.“ Helmut Kohl ruft seine Freunde in den Unternehmensvorständen an und bittet sie, uns diese Schande zu ersparen.

Doch viel bringt die Aktion nicht. Ausbildungsplätze schmelzen dahin, zumal die guten und die teuren. 40 Prozent der Plätze in der Industrie wurden in den vergangenen zehn Jahren gestrichen – und das angesichts einer neuen Welle starker Jahrgänge. Von den Gewerkschaften hören wir noch einmal all die oft gemachten Vorschläge für eine Umlagefinanzierung. Tatsächlich bilden nur noch 14 Prozent der Industriebetriebe aus. Wirtschaftsverbände kontern mit ihren flinken Money-Money- Rezepten. Sie wollen Lehrlingsgehälter drastisch kürzen. Aber die Rhetorik ist schnell erschöpft. Niemand hört so recht zu, und irgendwie wissen es alle: Die Lehrstellenkrise ist eines der vielen Symptome für die Erosion der klassischen Industriegesellschaft. Deren Rückgrat waren die Facharbeiter, die gewissenhaft ausführten, was man von ihnen verlangte. Das hatten sie in ihrer Lehre ein für allemal gelernt. Deutschland war Weltmeister der industriellen Moderne. Die aber läuft aus. Betriebe ersetzen die dreijährige Ausbildung immer häufiger durch kürzere, allerdings wiederkehrende Trainingsprogramme, und sie greifen auf die Gratisausbildung der Hochschulen zurück, die inzwischen ja mehr als ein Drittel der Jugendlichen durchläuft. Bei all dem entstehen vielfältige Mischformen von Ausbildung und Autodidaktik.

Nehmen wir die Studienabbrecher als Beispiel. Über diese ziemlich unerforschte Bevölkerungsgruppe gibt es die widersprüchlichsten Statistiken. In manchen Fächern bricht wohl die Hälfte ab. Aufschlußreich ist, wie sich in der letzten Zeit ihr Bild in der Öffentlichkeit ändert. Sie gelten nicht mehr nur als Versager oder kostspielige Irrläufer des Bildungssystems. Wolfgang Frühwald, der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, attestiert manchem Studienabbrecher mehr Kreativität als vielen, die brav ihr oft taubes Studium bis zum Ende ertragen. Gerd Binnig, Nobelpreisträger für Physik, erinnert sich: „Die kreativsten meiner Kommilitonen haben damals (in den 70er Jahren) das Studium geschmissen.“ Es bleibt kein Makel zurück, wenn sich „ZAK“-Moderator Küppersbusch öffentlich als Flüchtling aus der grauen Hochschulprovinz outet. Spiegel-Chef Stefan Aust berichtete vor einiger Zeit, bei „Spiegel-TV“ seien die einzigen, die ihr Studium abgeschlossen hätten, bei den Sekretärinnen zu finden. Er selbst hatte in den 70er Jahren nach drei Semestern der Soziologie ade gesagt. Das Schlaglicht auf die Szene der Studienabbrecher kann nur andeuten, was ein genaueres Ausleuchten der Bildungsszene sichtbar macht: Die alte Belehrungskultur löst sich auf. Selbstgestrickte Lernstrategien treten häufig an die Stelle starrer Belehrungsmuster. Gewiß, dies ist ein Blick auf die Seite der Gewinner, die stark genug sind, die Anforderung einer zweiten Moderne zu erfüllen, die da heißt „sich selbst erfinden“. Wie verbreitet allerdings die Selbstlernfähigkeiten von Jugendlichen sind, zeigt ihre Virtuosität an Computern. Mit ihrer autodidaktischen Lust müßte die Gesellschaft ein Bündnis eingehen.

Die große Schande der aktuellen Lehrstellendebatte ist, daß sie nur eine über die Unterbringung von Schulabgängern ist. Um die Statistik zu frisieren, werden die Umsorgten zu Statisten gemacht. Man setzt sie in Züge, die kein Ziel haben, Hauptsache, sie rollen: weg, weg. Die Parole, der lebenslange Beruf sei passé und an dessen Stelle trete „lebenslanges Lernen“, ist wohlfeil. Nun wird es darauf ankommen, Räume, Zeiten und Gelegenheiten, durchaus auch Muße, für jenes Lernen zu schaffen.

Am Ende der sich auflösenden klassischen Moderne, der Industriegesellschaft, brauchen wir eine große Debatte über Bildung – und viele kleine, mutige Experimente. Tatsächlich gibt es Ansätze. So sind der Bundesvorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und der Bundesverband Junger Unternehmer gemeinsam an die Öffentlichkeit getreten, um für mehr Autonomie jeder einzelnen Schule einzutreten. Sie fordern den endgültigen Abschied von der Paukschule. Schüler sollten vielmehr im Team arbeiten, sollten fächerübergreifend handeln und denken. Autonomie und Selbstregulierung statt Lehrplanwirtschaft. Man mag einwenden, daß sei selbstverständlich. Aber davon, daß in unseren Bildungseinrichtungen tatsächlich das Lernen gewagt wird und nicht wie üblich zum opportunistischen Nachäffen verkommt, sind wir noch weit entfernt. Doch langsam setzt sich die Einsicht durch, daß Menschen nur in Einrichtungen leben können, die ihrerseits lernfähig und keine nachgeordneten Behörden sind. In denen nämlich lernt man Dienst nach Vorschrift. Und welche Vorschriften morgen gültig sind, weiß heute niemand. „Lernende Organisation“ heißt das neue Schlagwort. Es könnte das Zeichen für unerwartete Bündnisse werden. Reinhard Kahl