Souvenirs, Souvenirs

Keine Ehrfurcht vor Autoritäten: Die Festspielgalerie zeigt Reportagen, Momentaufnahmen und intime Porträts von Gisèle Freund, der großen alten Dame der Fotografie  ■ Von Katrin Bettina Müller

Verlegen verteidigt eine blonde Dame ihre Snap-Shot-Pappkamera. Also die sei nur schnell für den Notfall gekauft, weil sie erst spät von Gisèle Freunds Signierstunde erfahren habe. Einigen, die vor dem Bücherbogen in der Kochstraße auf die berühmte Fotografin seit fast einer Stunde lauern, lugt Freunds „Photographie und Gesellschaft“, Kultbuch einer Studentengeneration vor 20, 30 Jahren, aus der Hosentasche. Die meisten aber haben ihre Kamera mitgebracht für ein Erinnerungsfoto der Portraitistin.

Gisèle Freund, die von den Berliner Festspielen zum Programm von „Frankreich–Deutschland“ eingeladen worden ist, begann ihre Arbeit als Fotojournalistin zu einer Zeit, als das fotografische Medium noch nicht allgegenwärtig war. Ihre Ausstellung in der Festspielgalerie konzentriert sich auf wenige Werkkomplexe, die zugleich Wendepunkte ihrer deutsch-französischen Biographie markieren: In ihren Aufnahmen der 1.-Mai- Demonstrationen 1932 in Frankfurt am Main kündigt sich die erstarkende nationalsozialistische Front an, vor der sie 1933 nach Frankreich fliehen konnte. Mit ihren Bildern vom „1. Internationalen Schriftsteller-Kongreß zur Verteidigung der Kultur“ in Paris 1935 begann ihre Rolle als Porträtistin berühmter Autoren. In ihren begleitenden Texten hebt sie hervor, daß sie in Frankfurt den ganzen Tag über keinem einzigen Berufsfotografen begegnet sei und in Paris mit einem Kollegen einen Kongreß begleitet habe, der heute Hunderte von Fotografen anziehen würde.

Vielleicht ist diesem Umstand die Unmittelbarkeit zu verdanken, mit der Freund uns mitten in das Geschehen hineinzieht. Mit ihrer Leica schiebt sich die junge Frankfurter Soziologiestudentin am 1. Mai nah an die „Schupos“, die im Streifenwagen vorbeiwischen, kämpft sich vor dem Opernhaus bis zum Tisch vor, den ein kommunistischer Redner als Bühne nutzt, quetscht sich zwischen Transparente tragenden Studenten durch, gewinnt einen erhöhten Standpunkt, das wogende Meer der Hüte auf dem Römerberg zu erfassen, begegnet ein paar Schritte weiter „Roten Jungpionieren“ und Arbeitersportlern.

Tempo, Rhythmus und Standpunkte wechseln vielfach an diesem Tag. Selten wird das Bild der unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen am Ende der Weimarer Republik, deren Konturen bald darauf im nationalsozialistischen Takt verwischt wurden, so plastisch wie in dieser Reportage.

Eine ganz andere Intimität bestimmt dagegen die Porträts der Dichter in Paris. Freunds Ehrgeiz, „jenseits der Maske, die wir in der Gesellschaft tragen, das individuelle Portrait“ zu suchen, begann als persönliche Leidenschaft. Sie kannte die meisten Autoren – André Malraux, André Gide – und teilte begeistert deren humanistisches Anliegen.

Der dritte Werkkomplex in der Festspielgalerie ist ihren Berlin- Besuchen in den Jahren 1958 bis 1962 gewidmet, die als Geste der Versöhnung und des Mitleidens mit Nachkriegsdeutschland gedeutet werden. Dort begegnet das fotografische Medium auch seiner eigenen Geschichte, als sie vor einem Delikatessengeschäft eine kleine Stellwand mit den ersten Postkartenansichten der Berliner Mauer fotografiert: Die Teilhabe an der Geschichte ist durch das fotografische Souvenir Allgemeingut geworden.

Die Souvenirjäger vor dem Buchladen vertreiben sich derweil die Wartezeit mit Gesprächen: Ob Gisèle Freund denn wohl den Titel als Ehrenprofessorin annehmen werde, mit dem Eberhard Diepgen sie im Roten Rathaus für ihr Werk auszeichnen wollte? Vor den laufenden Fernsehkameras anläßlich der Ausstellungseröffnung soll sie sich ja auf diese Nachricht hin bloß an die Stirn getippt haben. So ist Gisèle Freund, mit 87 Jahren noch immer unbeeindruckt von Autorität.

Als sie endlich kommt, etwas müde von ihren Terminen als „Zeitzeugin“, schließt sich der Pulk der Verehrer rasch um ihren Tisch. Und die Dame mit der Pappkamera muß auf die Galerie steigen, um wenigstens von oben den grauen Haarschopf zu sichten.

Gisèle-Freund-Ausstellung im Rahmen der Berliner Festwochen: „Berlin–Frankfurt–Paris“, bis 29.9., tägl. 10–18 Uhr, Festspielgalerie, Budapester Straße 48