Keine Zeit für Rosen

■ Die 85jährige Schriftstellerin Johanna Moosdorf erzählte von der Nachkriegszeit, schrieb einen frühen Lesben-Roman und denkt noch lange nicht ans Aufhören

Meist hat sie das umständliche Vergrößerungsgerät eingeschaltet, auf dessen Bildschirm der Text übergroß flimmert. Johanna Moosdorf sitzt mit 85 Jahren tagtäglich an ihrem Schreibtisch. Ein neuer Roman entsteht: „Flucht aus der Zeit“, eine Zukunftsgeschichte, in der sich eine Frau über alle Zeit- und Raumschranken hinwegsetzt. Was auch für die Autorin gilt: So lange sie denken kann, hat sie geschrieben, sich so ihr eigenes Reich geschaffen, in dem sie Grenzen überwindet, Verlorenes wieder an sich nimmt und Vergangenes lebendig macht.

Verloren hat sie viel: Als sie zwei Jahre alt war, starb ihre Mutter. Der Vater war Buchdrucker in Leipzig. Sie war die Jüngste, hatte zwei ältere Brüder: Willi meldete sich freiwillig als Soldat im Ersten Weltkrieg und kam ums Leben. Mit ihrem Bruder Hermann schloß sie sich der Jugendbewegung an. Noch vor dem Abitur verließ sie das Gymnasium. Mit 20 lernte sie den Politologen Paul Bernstein kennen.

„Der ist Jude und Marxist, mit dem wirst du dich bloß zanken, hieß es. Aber es war Liebe auf den ersten Blick.“ Sie folgt dem Freund in seine Stadt Berlin und leitet mit ihm ein Heim für arbeitslose Jugendliche in der Schlesischen Straße. „Wohnkollektiv“ nannten sie sich schon damals. Vom Dach des Hauses sehen die beiden dann den Reichstag brennen.

Der erste Gedichtband von Johanna Moosbach wird nicht mehr gedruckt, weil sie nicht in der „Reichsschrifttumskammer“ ist. Doch noch begegnen Johanna und Paul dem Nationalsozialismus, der Hetzkampagne gegen die jüdische Bevölkerung mit Hohn. „Ach, wir hatten ungeheure Distanz zu diesen Dingen. Deshalb sind wir auch nicht ausgewandert. Daß wir selbst betroffen waren, das haben wir erst viel später gemerkt.“

Als ihre Kinder – Barbara, dann Thomas – zur Welt kommen, beginnen die Schikanen der Hausbewohner in der Charlottenstraße, wo Johanna und Paul eine Hinterhausmansarde bezogen haben. Freitags gehen sie in den Hedwigsdom zur Andacht des Domprobstes Lichtenberg.

Ihre Geschichte mit Paul Bernstein erzählt Johanna Moosdorf fünfzig Jahre später in dem Roman „Jahrhundertträume“: In einem großen Berliner Mietshaus mit vielen Etagen und Höfen wohnen Freunde und Feinde, Gegenwart und Vergangenheit unter einem Dach. Im Mittelpunkt der Geschichte Paul Bernstein, sein Weg in den Tod: 1944 wird er verhaftet, nach Theresienstadt verschleppt, in Auschwitz ermordet.

„Wenn Erzählen von Erinnerung eine Art Befreiungstherapie sein soll, so hat sie bei mir versagt“, erklärt Johanna Moosdorf am Ende. Das gilt bis heute – und wohl gerade deswegen schreibt sie immer weiter, mit einer Emotionalität, die sich so schnell nichts ausreden läßt. Und das seit jeher. Wenig verwunderlich, daß sie in der Nachkriegszeit mit dieser Haltung aneckte, sowohl im Osten als auch im Westen. Nur wenige Jahre war sie Feuilletonchefin der Leipziger Volkszeitung. „Da habe ich zu Pfingsten statt einer politischen Seite mal eine ganze Seite über Rosen geschrieben, Kulturgeschichte der Rosen. Da können Sie sich vorstellen, wie enttäuscht die waren.“

Nach einer kurzen Zeit als Herausgeberin der Literaturzeitschrift März macht sie noch einen Versuch, sich mit ihrem Land zu versöhnen: Sie folgt dem Aufruf „Schriftsteller in die Betriebe“. Doch ihre Erzählung, die von der Geschichte eines Unglücksfalls im Schwerindustriekombinat Böhlen handelt („Sabotage“), erscheint nicht mehr in der DDR.

1950 zieht Johanna Moosdorf mit ihren Kindern nach West-Berlin, wohnt zuerst in der Querstraße1 in Zehlendorf. Auch dieses Haus taucht später in einem ihrer Romane auf. In „Die Andermanns“ (1968) belebt eine Großfamilie mit Freunden und Verwandten die Zehlendorfer Villa. Heute erinnert das Buch an Edgar Reitz' Serie „Die zweite Heimat“. Lange vor diesem erzählt sie von der Nachkriegsgeneration, stellt Fragen nach den Taten der Väter. Zu diesem Zeitpunkt waren ihre eigenen Kinder, Barbara, die Malerin, und Thomas, heute Politologieprofessor, schon in Amerika.

Auch in „Nebenan“, 1961 zeitgleich mit Uwe Johnsons Roman „Das dritte Buch über Achim“ bei Suhrkamp erschienen, bleibt sie ihrem Thema treu: Der unauflöslichen Verwicklung von Geschichte, Trauer und Engagement. Eine Frau verweigert sich der Nachkriegsrealität; den Krieg hat sie in einer Heilanstalt verbracht, in die ihr Mann, damals KZ-Arzt, sie eingewiesen hat. Der leitet nun eine pharmazeutische Fabrik – die Mörder sind unter uns.

„Da waren ja alle böse, da waren Sie ja ein Nestbeschmutzer, wenn Sie was gesagt haben gegen Faschismus, Nazismus.“ Johanna Moosdorf erhielt für „Nebenan“ 1963 den Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund. „Ich engagiere mich nicht, ich werde nicht engagiert, ich bin engagiert“, erklärte sie in ihrer Dankesrede. Politisch bleibt Johanna Moosdorf nicht einzuordnen, beharrt angesichts der „heillosen Welt“ sperrig auf dem einzig Verläßlichen – ihrer Subjektivität.

Die Zeiten spiegeln sich in ihren Büchern vorwiegend in den Frauenfiguren. Ganz dem Thema gewidmet ist der Roman „Die Freundinnen“ (1977). Er handelt von der Liebe zwischen zwei Frauen und wurde zu einem frühen Kultbuch der Lesbenbewegung – keine Familiengeschichte mehr, statt dessen Beziehungen, Verhältnisse, skizziert auf dem Hintergrund der geteilten Stadt Berlin.

Wer heute zu Johanna Moosdorf kommt, empfindet eine fast bedrückende Zeitlosigkeit, auch wenn der Wecker auf dem Schreibtisch laut tickt. In ihrer Wohnung in der Kastanienallee in Westend hat sich die Welt über Jahrzehnte bewahrt. Bilder von Paul Bernstein stehen herum, von den Kindern in Amerika, den Enkelkindern. Auf dem Schreibtisch, in den Schränken, überall Manuskripte, die alten vergilbt, die neuen mit übergroßen Seitenzahlen versehen. Christine Frick-Gerke