Nein sagen heißt die erste Regel

Hohe Arbeitslosigkeit, sinkende Steuereinnahmen: Der Senat wünscht sich eine Welle von Unternehmensgründungen. Doch der erhoffte Boom bleibt aus. „Gründerzentren“ können den Weg in die Selbständigkeit erleichtern  ■ Von Jochen Siemer

Regel Nummer 1: „Lernen Sie, das Wort Nein auszusprechen.“ Es gibt noch eine Menge anderer Regeln, aber diese hält Günther van de Lücht, Gründer des Unternehmer-Selbsthilfevereins „Ausweg“, für die wichtigste von allen: Wenn Sie seit Wochen auf den ersten Auftrag warten, aber der vom Kunden gebotene Preis auch nur um 10 Pfennig unter ihrer Mindestkalkulation liegt, sagen Sie nein. Wenn Sie mit einem extrem günstigen Schnäppchen Ihre Betriebsausstattung erweitern könnten, aber anschließend nicht mehr liquide wären, sagen Sie nein. Und wenn Sie einen Angestellten nicht mehr bezahlen können, der gleichzeitig ein langjähriger Freund ist und Sie inständig bittet, es doch noch einmal zu versuchen, dann sagen Sie auch nein!

Das wichtigste Motiv für den Schritt in die Selbständigkeit, gibt die Senatsverwaltung für Wirtschaft bekannt, ist allerdings nicht der Hang zum Nein, sondern ganz im Gegenteil der Wunsch, eigene Ideen durchzusetzen, gefolgt vom Streben nach Entscheidungs- und Handlungsfreiheit.

Aus der Arbeit des Vereins, die im März 1994 in Berlin begann und an der inzwischen bundesweit rund 1.100 Mitglieder mitwirken, weiß van de Lücht, wie schwer diese Ziele zu erreichen sind. „Ausweg“ versteht sich zwar als Unternehmerverband, doch im Unterschied zu den übrigen Interessenvertretungen dürfen auch und gerade diejenigen Mitglied werden beziehungsweise bleiben, die an der Selbständigkeit gescheitert sind. Und davon gibt es eine Menge.

Das kann auch der Senat nicht verhehlen. Mangels anderer Daten bemüht er die Zahl der Gewerbeanmeldungen als „Indikator für Existenzgründungen“ – eine etwas unsolide Kalkulation, denn wer ein Gewerbe anmeldet, muß es deshalb noch lange nicht ausüben oder gar seinen Lebensunterhalt damit bestreiten. Immerhin läßt sich eine erfreuliche Tendenz verzeichnen: 44.000 Anmeldungen 1995 und somit 2.400 mehr als im Jahr davor tragen dazu bei, daß die Berliner „Selbständigenquote“ inzwischen bei 8,8 Prozent der Erwerbstätigen liegt. Der Trend ist im Westteil der Stadt steigend, im Ostteil stagniert er auf hohem Niveau.

Gleichzeitig stieg indes auch die Zahl der Abmeldungen, und zwar um 5.300 auf insgesamt 36.500. Für die Statistik bleiben also nurmehr 7.500 neue Gewerbetreibende übrig. 1994 waren es noch 3.000 mehr. Verständlich das Interesse der Landesregierung, den „positiven Gründungssaldo“ wieder nach oben zu treiben, rechnet er doch mit 1,5 bis 4,5 Arbeitsplätzen, die jeder Existenzgründer bereits im ersten Jahr schafft.

Auch im Rest der Republik verzeichnet der Westen eine steigende, der Osten eine gleichbleibend hohe Zuwachsrate von Unternehmensgründungen, die Berliner Bilanz entspricht somit in etwa dem bundesweiten Durchschnitt. Was wiederum – folgt man der Standortwerbung des Senats – angesichts der vielen offensichtlichen Vorteile der Spree-Metropole verwundern muß: Als künftiger Regierungssitz müßte Berlin doch einen enormen Bedarf an Dienstleistungen aller Art aufweisen, als Industriestandort auf Zulieferer mit pfiffigen Ideen warten und mit seinen rund 200 Forschungseinrichtungen für immer neue Initialzündungen sorgen. Wer in derart inspirierender Umgebung dann noch ein tragfähiges Konzept entwickelt, kann obendrein auf ein vielfältiges Beratungs- und Subventionsangebot zurückgreifen.

Die Realität, meint der Geschäftsführer des „Existenzgründer-Instituts Berlin e. V.“ Sven Ripsas, gestaltet sich leider etwas problematischer. Seit zwei Jahren versucht das Institut, dessen Vorsitzender Wirtschaftssenator Elmar Pieroth ist, „zu mehr qualifizierten und wachstumsorientierten Gründungen an den Hochschulen zu motivieren“, wofür ganz offensichtlich auch reichlich Bedarf vorhanden ist: Selbst der Diplom- Kaufmann Ripsas hat es schließlich geschafft, „das Studium abzuschließen, ohne eine Veranstaltung über Existenzgründung zu besuchen“. KommilitonInnen aus anderen Fachbereichen wissen dementsprechend in aller Regel viel weniger, wie sie eine womöglich vielversprechende Idee gegen die etablierte Konkurrenz durchsetzen sollen.

Ein Markt für Dienstleistungen, so Ripsas, besteht auch trotz des eher schleppenden Regierungsumzugs immer: „Schließlich laufen hier vier Millionen Leute rum“, mit entsprechendem Bedarf an „konsumorientierten Angeboten“. Doch den gibt es in Hamburg, München oder Frankfurt natürlich auch.

Den „Industriestandort Berlin“ hingegen wird der Senat, wenn sich die gegenwärtige Entwicklung fortsetzt, demnächst aus seiner Auflistung positiver Faktoren streichen müssen. Rund die Hälfte aller Arbeitsplätze auf diesem Sektor sind mitsamt ihrem Zulieferbedarf in den letzten fünf Jahren aus der Stadt verschwunden: nur ein Teil davon ins benachbarte Brandenburg, das Gros hingegen in mehr oder weniger weit entfernte Niedriglohnländer. So mancher Existenzgründer hat sich diesem Trend denn auch gleich angeschlossen. Die Bereitschaft, ein neues Unternehmen dort zu starten, wo Arbeitskräfte billig und in zunehmendem Maße trotzdem hochqualifiziert sind, hat nach Ripsas' Einschätzung erheblich zugenommen.

Die Vorteile des „Wissenschaftsstandorts“ Berlin sieht das Existenzgründer-Institut hingegen als ein in der Tat reiches Potential, dessen innovativer Output aber gerade im Sinne der JungunternehmerInnen marktwirtschaftlich ungenügend genutzt wird: „Meist kommt ein Großunternehmen und kauft die Idee.“ Kaum verwunderlich also, daß unter den vielen verschiedenen Förderangeboten ein Konzept besonders gelobt wird, das die speziellen Handicaps der finanziell meist mager ausgestatteten Neugründungen gerade im kapitalintensiven Technologiebereich zu mildern versucht: Die „Gründerzentren“ in Köpenick, Oberschöneweide, Adlershof und Wedding sollen unter einem Dach nicht nur Räume für Entwicklung und Produktion, sondern auch Dienstleistungen vom Telefondienst über die Kopierzentrale bis zur Beratung in technischen und wirtschaftlichen Fragen durch ein „Zentrums-Management“ bieten. Allerdings kann sich hier niemand auf Dauer niederlassen, nach spätestens fünf Jahren muß der Platz für den nächsten Newcomer geräumt werden.

Der Ansatz gilt unter Experten als vielversprechend, weil er nicht nur materielle Ressourcen bündelt, sondern auch dem noch immer weit verbreiteten Einzelkämpfertum entgegenwirkt. Gerade wer eine unternehmerische Existenz erst noch begründen muß, kann schließlich vom Erfahrungsaustausch profitieren, und zwar nicht nur in Fragen seines jeweiligen Fachgebiets, Finanzierungs- oder Rechtsproblemen. „Unternehmensgründung“, so Sven Ripsas, „ist kein rein rationaler Prozeß“, und auf viele Probleme, mit denen sich JungunternehmerInnen herumplagen, sind die MitarbeiterInnen in den diversen Beratungsstellen nicht vorbereitet – die allerwenigsten von ihnen haben nämlich selbst schon einmal ein Unternehmen gegründet.

Alles in allem sieht Ripsas aber durchaus Chancen für gute, innovative Ideen. Wobei „innovativ“ keineswegs gleichbedeutend mit Laser-Technologie, Computern oder Molekularbiologie sein muß. Er selbst sammelte zum Beispiel einschlägige Erfahrungen als Assistent des TU-Professors Günter Faltin, der auch das Existenzgründer-Institut initiierte, bei der Gründung der „Tee-Kampagne“.

Buchtip: Günther van de Lücht: „Jagd auf Existenzgründer. Die gefährlichsten Feinde des Jungunternehmers von B bis Z“. Berlin 1994, Bernd-Michael Paschke Verlag. 19,80 DM. ISBN 3-929711-05-2