Des Königs neue Kleider

In Marokko erdreisten sich zwei Ärztinnen, einen Minister zu verklagen. Bürger fordern einen Rechtsstaat, um die Islamisten zu stoppen  ■ Aus Rabat Antje Bauer

Die ursprüngliche Anklage gegen den Apotheker Mohammed Moncef Benabderrazik klang recht harmlos. Inspektoren hatten in seinem Lager Präservative mit abgelaufenem Verfallsdatum gefunden und ihn verdächtigt, er habe diese noch verkaufen wollen. Keine große Affaire.

Am Tag vor Prozeßbeginn gab das Gesundheitsministerium in Rabat jedoch überraschend ein Kommuniqué heraus. Laut Untersuchungen des marokkanischen Pasteur-Instituts habe Benabderrazik aus Spanien Gammaglobuline importiert, die HIV-Antikörper aufwiesen und somit Aids-verseucht seien, hieß es da. Eine schlimme Sache. Es war Januar, und die „Kampagne zur wirtschaftlichen Gesundung“, die das Innenministerium wenige Wochen zuvor ausgerufen hatte, rollte gerade an. Korruption und Betrügereien, Steuerhinterziehung und Drogenhandel sollten nun aus Marokko getilgt werden. Der Fall Benabderrazik kam da wie gerufen, um zu beweisen, daß die Kampagne erstens nötig war und zweitens effizient durchgeführt wurde.

Die zivile Gesellschaft beginnt, sich zu rühren

Da meldeten sich überraschend zwei Ärztinnen des staatlichen Krankenhauses von Casablanca zu Wort: Noufissa Benchemsi, Leiterin des dortigen Transfusionszentrums, und Hakima Himmich, Leiterin der Infektionsabteilung. Die Existenz von Antikörpern in Gammaglobulinen habe nichts mit einer Aids-Verseuchung zu tun, versicherten sie, das sei schlichter Humbug. Es gebe keinerlei Grund zur Aufregung. Wer sich hingegen aufregte, war der desavouierte Gesundheitsminister. In einem Interview bezeichnete er die beiden Ärztinnen als verantwortungslos und barbarisch und kündigte Sanktionen gegen sie an.

Womit wohl niemand gerechnet hatte, war die Reaktion der Öffentlichkeit. Alle Zeitungen kritisierten die Ausfälle des Ministers gegenüber den Ärztinnen, 250 Personen forderten öffentlich seinen Rücktritt, und im Parlament mußte er auf eine Anfrage der Oppositionsparteien Rede und Antwort stehen. Die beiden Ärztinnen zeigten sich überrascht. „Es ist wohl das erste Mal in Marokko, daß sich die zivile Gesellschaft in dieser Form äußert“, versichert Hakima Himmich gegenüber der taz. Die Affaire Benabderrazik war zur Affaire Benchemsi/Himmich geworden.

Während die Aufregung über den Fall noch anhielt, holten die beiden Ärztinnen zum zweiten Schlag aus: Sie verklagten den Gesundheitsminister wegen Beleidigung. Marokko hielt den Atem an. Es war noch nie vorgekommen, daß ein ganz normaler Untertan, noch dazu eine Frau, einen Minister vor Gericht zitierte. „Zwar sind schon mal Minister angeklagt worden, aber das spielte sich innerhalb der Regierung ab“, erklärt Azeddin Bennis, Professor für Privatrecht an der Universität Rabat. „Wenn aber ein Bürger einen Minister anklagt, der ja immerhin vom König ernannt worden ist, dann erscheint das, als ob er den König selbst angriffe.“ Den König und seine Rolle in Frage zu stellen, ist in Marokko absolut tabu.

Die Klage der beiden Ärztinnen löste zwar erhebliches Erstaunen aus, doch das politische Klima war günstig. In den letzten Jahren haben sich in Marokko eine Reihe Bürgerrechtsgruppen gebildet, die von unterschiedlichen Ausgangspunkten aus die Einführung eines Rechtsstaates fordern und auch vor der Debatte über Tabuthemen immer weniger zurückschrecken. Es sind großenteils Angehörige der intellektuellen Elite, viele von ihnen aus angesehenen Familien, die sich zum ersten Mal im Leben politisch engagieren. Auch Professor Bennis gehört zu ihnen. Er, nach eigener Aussage ein unpolitischer Mensch, hat vor einem halben Jahr die Bürgerrechtsgruppe „Alternatives“ mitbegründet, die öffentliche Debatten organisiert und Artikel in Zeitungen veröffentlicht.

Den Grund für das zunehmende staatsbürgerliche Engagement vieler Intellektueller sieht Bennis in einer wachsenden Angst vor Zuständen wie im Nachbarland Algerien. „Die Verfechter der Aufklärung sind in der Krise“, klagt er. „Ich treffe immer wieder auf Intellektuelle, die früher die Vorreiter des modernen Denkens waren und heute das Gefühl haben, gegen den Strom der Geschichte zu schwimmen. Als ob der Strom der Geschichte ins Goldene Zeitalter des Islams zurückführe. Und das Gefährliche daran ist, daß sie das Bedürfnis haben, wieder mit dem Strom der Geschichte zu schwimmen. Wir wollen dem gegensteuern.“

Die islamistische Bewegung ist auch in Marokko auf dem Vormarsch, wenn auch weniger offensichtlich als etwa in Ägypten oder Tunesien. Der Islam ist Staatsreligion, König Hassan II. trägt den Namen „Beherrscher der Gläubigen“, und während des Fastenmonats Ramadan nimmt er an den religiösen Plaudereien der islamischen Würdenträger teil. Vor wenigen Jahren erst wurde in Casablanca die größte Moschee der Welt mit Namen Hassan II. eingeweiht. Doch an den Universitäten und in den Arbeiter- und Elendsvierteln macht sich zunehmend ein Islam breit, den das Königshaus nicht so recht kontrollieren kann. Die Studenten suchen nach einer neuen Identität. Die Ausrichtung auf Europa, die in den früheren Generationen noch selbstverständlich war, wird zunehmend in Frage gestellt. Während des Golfkriegs gegen den Irak gärte es an den Universitäten, weil sich das Regime auf die Seite der Alliierten geschlagen hatte, während nach Ansicht vieler Marokkaner die Iraker ihre Solidarität verdient hätten.

In den Elendsvierteln rund um die großen Städte erweisen sich die militanten Gläubigen als sozial Engagierte, die durch Spenden dort Halt geben, wo der Staat versagt. Die soziale Schere tut sich immer weiter auf in Marokko: Der monatliche Mindestlohn liegt bei 1.500 Dirham, etwa 300 Mark, was weder zum Leben noch zum Sterben reicht. Dennoch kann sich glücklich schätzen, wer diesen Mindestlohn hat, denn wer arbeitslos ist – unter den Jugendlichen ist das mehr als ein Drittel – erhält keinen müden Centime. Dürre und Unterentwicklung haben in den letzten Jahren Zehntausende vom Land in die Städte flüchten lassen. Gleichzeitig lebt die kleine Schicht der Reichen des Landes in Palästen, kutschiert in Luxusautos herum, schickt ihre Kinder in die USA zum Studium und verbringt die Ferien an der Côte d'Azur. Kein Wunder, wenn die Ausgeschlossenen in religiösen Organisationen mehr soziale Gerechtigkeit suchen.

In diese Richtung geht auch die Argumentation der Opposition, die vom Königshaus die Einführung eines Rechtsstaats und eine soziale Wende einfordert. „Der Islam ist in Marokko keine Gefahr wie in Ägypten oder Algerien“, bemerkt bedächtig Abdelmajid Bouzouba, der Vizevorsitzende der größten Gewerkschaft CDT. „Aber wenn wir auf dem Weg der Verarmung und des Mangels an Demokratie fortschreiten, dann könnte er zu einer Gefahr werden.“ Seit Jahren fordert seine Gewerkschaft, die der sozialistischen Partei USFP verbunden ist, eine politische Wende und saubere Parlamentswahlen. Immer wieder wird ihnen das in Aussicht gestellt, und immer wieder wird bei den Wahlen solange betrogen, bis das Ergebnis dem Herrscherhaus genehm ist. Und immer wieder landet ihr Boß, der kräftige Nubir el-Amaoui, im Knast, weil er in einem Interview mal wieder etwas zu deutlich geworden ist.

Das ständige Wechselspiel zwischen Hoffnung und Repression ist typisch für das marokkanische Regime. Und im Laufe der Jahrzehnte hat sich die Opposition – Parteien und Gewerkschaften – in gewisser Weise daran angepaßt. Die immer neu belebte Hoffnung läßt die meisten Oppositionellen im Lande bleiben. Doch die ständige Drohung der Repression macht sie vorsichtig. „Auch die Opposition befolgt gewisse unausgesprochene Regeln des Machsan, und das Schweigen über bestimmte Dinge gehört dazu“, kritisiert Azeddin Bennis. Der Machsan ist in Marokko der Begriff für das Herrscherhaus, für den König, seine Regierung und deren Umfeld. Es bezeichnet auch ein traditionelles patriarchalisches Wertesystem, in dem der König als Übervater Herrscher über Tod und Leben ist und sich an keine Gesetze zu halten braucht.

Das Machsan-System hat bislang hervorragend funktioniert: Mit einer intelligenten Politik aus Allianzen, Versprechungen, der weitgehenden Integration seiner Gegner und gelegentlicher und unerwarteter heftiger Repression ist Marokko heute das stabilste Land in Nordafrika. Es gründet sich eine Frauengruppe? Der Machsan läßt selber eine gründen, mit einer Prinzessin an der Spitze. Es bildet sich eine Gruppe zur Wahrung der Menschenrechte? Der Machsan schafft ein Ministerium für Menschenrechtsfragen. Militante Islamisten gründen eine politische Partei? Der Machsan ist mit seinen eigenen Leuten dabei. Und wenn das Infiltrieren, Integrieren und Spalten nicht hilft, dann wird eben der Vorsitzende eingesperrt. Die Gefahr, unvermittelt auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden, den Rest des Lebens in einer feuchten Zelle zu vermodern oder den Folterknechten des Regimes ausgeliefert zu werden, ist jedem bewußt und fördert die politische Zurückhaltung der Bürger.

Bürgerrechtler klagen Pressefreiheit ein

Doch die neuen Bürgerrechtler wollen sich von der Logik des Machsan nicht mehr einfangen lassen. Sie fordern Medienfreiheit und eine parteien- und regierungsunabhängige Presse. Nachdem das zweite marokkanische Fernsehen M2, zunächst in privater Hand, von der Regierung kürzlich aufgekauft worden ist, bildete sich ein „Komitee zur audiovisuellen Beobachtung“, das öffentlich den plötzlichen journalistischen Verfall bei M2 anprangerte. Nachdem die längst überfällige Änderung des Familienrechts – der einzige Gesetzesbereich, der sich am islamischen Recht ausrichtet – erneut nur kosmetische Verbesserungen brachte, bildete sich eine Vereinigung von Frauen, die Seminare und Konferenzen zum Thema organisierte. Selbst von Unternehmern bekommen die Gruppierungen Unterstützung: „Der Staat muß aufhören, sich in alles einzumischen und lieber die wenigen Dinge, für die er zuständig ist, vernünftig tun“, fordert etwa Benyoussef el-Hachemi, Vorsitzender der Kleinunternehmervereinigung gegenüber der taz. El-Hachemi will Geschäfte machen und dabei weder monatelang auf behördliche Genehmigungen warten noch Unsummen an Bestechungsgeldern bezahlen. Auch die neue Generation dynamischer Unternehmer will deshalb einen Rechtsstaat.

Die Zeiten scheinen günstig. Schon lange sind keine Oppositionellen mehr in den Knast gewandert, und beim letzten Generalstreik im vergangenen Juni hat die Polizei keine Demonstranten erschossen wie beim vorhergehenden im Jahre 1990. Außerdem steckt Marokko in einer Krise, die die Suche nach neuen Wegen dringend notwendig macht. „Ich glaube, daß sich etwas Grundlegendes ändert“, sagt hoffnungsvoll Hakima Himmich. „Es gibt eine Öffnung in diesem Land.“

Die Regierung verucht, die Opposition einzubinden

Nicht alle sind so optimistisch. Im kommenden Frühjahr werden Parlamentswahlen stattfinden, denen am 13. September ein Referendum über eine Verfassungsänderung vorausgehen soll. Diese ist, wie üblich, mit den Oppositionsparteien nicht abgesprochen worden. Sie sieht die Einsetzung einer zweiten Parlamentskammer vor, deren indirekt gewählte Mitglieder Vertreter der Gemeindeverwaltungen, Berufsverbände und Gewerkschaften sein sollen. Die Kammer soll das Recht haben, Gesetzesvorlagen und Mißtrauensvoten einzubringen sowie Untersuchungsausschüsse zu bilden. Bisher gibt es nur eine Parlamentskammer, deren Abgeordnete zu zwei Dritteln in allgemeiner Wahl, die übrigen in indirekter Wahl von Gemeinden, Berufsverbänden und Gewerkschaften bestimmt werden. Eine Verfassungsänderung fordern auch die Oppositionsparteien – allerdings mit dem Ziel, daß alle Abgeordneten in allgemeiner und gleicher Wahl bestimmt werden.

Auch der Verlauf des Prozesses, den die beiden Ärztinnen gegen den Gesundheitsminister angestrengt haben, bietet wenig Anlaß für Optimismus. Anfang Juli blieb der Angeklagte unentschuldigt der Verhandlung fern, das Gericht erklärte sich für nicht zuständig, die Sache wurde niedergeschlagen. Die beiden Ärztinnen haben inzwischen erneut Klage erhoben, in der selben Sache.

Auch für den Apotheker Benabderrazik hat sich nichts geändert. Zwar haben Analysen von spanischen Laboratorien ergeben, daß die inkriminierten Gammaglobuline keine Aids-Antikörper enthielten. Dennoch sitzt er seine Strafe von 9 Jahren ab. Es glaube nur dem marokkanischen Pasteur- Institut, hat das Gericht erklärt. Doch das Institut ist offenbar nicht ganz unparteiisch in der Sache. Laut Angaben des Apothekers hat der Direktor des Instituts von ihm zwanzig Prozent der Einnahmen aus dem Gammaglobulingeschäft gefordert. Auf seine Weigerung hin sei der Verdacht mit der Aids- Verseuchung lanciert worden. Betrug mit Hilfe einer Kampagne gegen Betrug.

Doch das Gericht ficht das alles nicht an. So bleibt wieder offen, ob sich in Marokko etwas ändert, oder ob es nur um den Königs neue Kleider geht.