Wo das Leben tobt

Von Alpen und Palmen: Für das Festival „Welt in Basel“ inszenierte Christoph Marthaler die Seelenseufzer der Weltreisenden Lina Bögli  ■ Von Jürgen Berger

Lina Bögli war fast 30 Jahre alt, als sie sich entschied, doch noch Lehrerin zu werden. Den nächsten tiefgreifenden Entschluß faßte sie einige Jahre später in Krakau, als sie Hauslehrerin bei einer polnischen Familie war: Innerhalb von fünf Minuten wurde ihr klar, daß sie eine Weltreise von genau zehn Jahren machen und sich das Geld während der Reise mit Privatunterricht verdienen wollte. Genau so geschah es. Am 12. Juli 1892 brach Lina Bögli auf, kam am 12.Juli 1902 wieder in Krakau an und blieb während der ganzen Reise so korrekt, spartanisch und von den eigenen Grundsätzen überzeugt, wie es wohl nur Schweizer Gouvernanten möglich ist.

Daß sie darüber hinaus auch eine differenzierte Beobachtungsgabe und sogar Witz besaß, zeigen die Briefe, die sie an ihre Freundin zu Hause schrieb. In einfühlsamen und sprachlich durchaus gelungenen Passagen schilderte sie das Leben der „Eingeborenen“, bei denen sie klinisch rein lebte, ohne sich jemals auch nur einen Schnupfen zu holen. Auf die Dauer erschienen ihr Tannenbäume und Alpen dann aber doch schöner als Palmen und australische Berge – eine Erkenntnis, die für einen Schweizer sicher genauso wichtig ist wie das Alphorn. Bestätigt sie ihm doch, daß er eigentlich nicht weg muß aus der Schweiz.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich Christoph Marthaler dieser nüchtern-skurrilen Schweizerin annehmen würde. Am letzten Wochenende war Uraufführung im Basler Badischen Bahnhof. Der Musiker und – obwohl Schweizer – alles andere als klinisch-korrekte Theatermacher hat mit einer seiner melancholiegetränkten Langsamkeitsexerzitien die Figur der Lina Bögli gleichzeitig entzaubert und ihr neuen Charme gegeben.

Im holzgetäfelten Bahnhofsbuffet und in einer Mischung aus ironischer Reportage und sehnsuchtsvollem deutsch-französischem Liederabend wurde die Seelentiefe der weltreisenden Gouvernante ausgelotet, die Catriona Guggenbühl wunderbar spielte.

Eine Schweizer Erfolgsgeschichte

Mit dieser Produktion im Badischen Bahnhof kehrte Marthaler an den Ort seines Karrierestarts zurück. 1988 inszenierte er hier ein Szenario zur „Reichskristallnacht“, drei Jahre später schaffte er mit „Stägeli uf, Stägeli ab, juchee!“ (für Nichtalemannen: „Treppauf, treppab, juchee“) seinen Durchbruch. Damals hatte er bereits eine Regierungsrüge hinter sich, da er zur Schweizer Volksabstimmung über die Abschaffung der Armee auf „hinterhältige Weise“ die Nationalhymne mißbraucht haben soll. Dabei hatte er in der Strophe „Wenn der Alpenfirn sich rötet, betet, freie Schweizer, betet“ lediglich „betet“ durch „tötet“ ersetzt.

„Lina Böglis Reise“ inszenierte Marthaler nun nicht für das Basler Theater, sondern für das noch bis 8. September stattfindende Festival „Welt in Basel“, zu dem die künstlerische Leiterin Renate Klett auch Uršula Cetinskis „Alma“ in einer Inszenierung des Cankarjev dom aus Ljubljana eingeladen hat – ein Stück über eine Figur, die gewissermaßen ein Pendant zu Lina Bögli ist. Alma Karlin brach im Jahr 1919 zu einer achtjährigen Weltreise auf, während der sie die Realität, anders als die Schweizerin, allerdings hautnah an sich heranließ.

In Anbetracht der 300.000 Franken, die Renate Klett für dieses Festival zur Verfügung standen (für das Münchner Theater der Welt, das sie vor einigen Jahren organisierte, waren es zwei Millionen Mark) ist das Programm durchaus außergewöhlich. Sogar das ThéÛtre Ubu aus Montréal konnte eingeladen werden. Alle ausgewählten Inszenierungen haben Projektcharakter, und die Hauptspielorte liegen auf dem Areal von Kleinbasels „Kaserne“, wo das Leben tobt, jedenfalls für Schweizer Verhältnisse. Ob es die „Welt in Basel“ in den nächsten Jahren noch ein viertes und weiteres Mal geben wird, steht allerdings in den Sternen und hängt neben Stadt und Baselland von einer langen Liste von Sponsoren ab.

Zurück zur akkuraten Frau Lina Bögli.

Eine Schweizer Sehnsuchtsgeschichte

Mit äußerster Kraftanstrengung schnürt sie immer wieder ihr inneres Korsett, kann aber nicht verhindern, daß ihr aus der Tiefe ihrer Schweizer Seele sehnsuchtsvolle Schwingungen aufsteigen. Marthaler lockt sie mit vier irren Gesangsmelancholikern hervor. In schwarzer Hauslehrerinnentracht lauscht Catriona Guggenbühl, bis es ihr zuviel wird und sie mit der flachen Hand aufs Katheder schlägt: Schluß mit Genuß. Zumeist wird Graham F. Valentine gezüchtigt, Marthalers unglaublicher Engländer mit Countertenorqualitäten.

Ganz wird die liebe Lina des Lebens Wahnsinn allerdings nicht los. Der Grund: ein polnischer Offizier, der wohl dafür verantwortlich war, daß es sie in die Welt trieb. Im Badischen Bahnhof beginnt einer der vier Sänger immer wieder wie ein Nachrichtensprecher diese kleine Geschichte zu verlesen, worauf Lina ihm sofort den Saft abdreht. Als könnte man so einfach die Erinnerung ausschalten.

„Lina Böglis Reise“. Regie: Christoph Marthaler. Welt in Basel, Badischer Bahnhof. Noch heute, 19 und 23 Uhr, und morgen, 20.30 Uhr. Ab November in der Volksbühne Berlin