Noch lange nicht verrostet und vernagelt

Seit 66 Jahren verliebt: Flora und Rudi Neumann feiern Eiserne Hochzeit  ■ Von Wilfried Weinke

Die Zahlenarithmetik für Ehejubiläen ist bekannt. Silberne: 25, Goldene: 50. Bis hierher ist alles klar. Diamantene vielleicht auch noch: 60! Aber Eiserne? Da muß man sich schon Rat holen. Genau: 65. 65 Jahre!

Es passiert nicht alle Tage, daß zwei Menschen auf so viel gemeinsam verbrachte Lebenszeit zurückblicken können. Flora und Rudi Neumann, diese beiden jungen Alten, können es. Seit 66 Jahren sind sie ein Liebespaar, seit 65 Jahren ein liebes Paar. Rudi ist nicht groß, eher stämmig. Gibt man ihm die Hand, drückt er sie kräftig, um zu zeigen, welche Kraft in seinen Unterarmen steckt. Sei es bei offiziellen Anlässen oder auch privat, Rudi ist auch mit 89 Jahren immer zu einem Spaß aufgelegt.

Am 7. August 1907 in Hamburg geboren, besuchte Rudi die Talmud-Tora-Schule. Nach dem Schul-abschluß erlernte er das Elektriker-Handwerk und begann sich gleichzeitig politisch zu interessieren und organisieren. Zunächst in der „Jugend-Gemeinschaft jüdischer Arbeitnehmer“, später in der Sozialistischen Arbeiterbewegung. Nach 1933 beteiligte er sich an deren illegaler Arbeit gegen die Nationalsozialisten.

Wiederholt wurde er verhaftet, in der sogenannten „Schutzhaft“ mißhandelt. Wegen antifaschistischen Widerstandes wurde er zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Als nach seiner Haftentlassung der jüdische Friedhof am Grindel zwangsgeräumt wurde, mußte Rudi bei der Umbettung der Gräber mitarbeiten.

1938 floh er per Fahrrad nach Belgien. Flora und ihr gemeinsamer dreijähriger Sohn Bernd folgten bald darauf. Nach dem Einmarsch deutscher Truppen wurden sie erneut voneinander getrennt. Sie wurden in Internierungslager in Südfrankreich deportiert, Rudi kam von dort nach Auschwitz, später ins KZ Buchenwald, wo er schließlich die Befreiung erlebte. Auch auf seinen Erlebnissen basiert das 1987 vom Hamburger Kinderhaus herausgegebene Buch Das Kind im Koffer. Eine Geschichte aus dem KZ Buchenwald, das beschreibt, wie sich die KZ-Insassen heimlich um ein kleines Kind kümmern.

Bis 1989 gehörte Rudi dem Beirat der Jüdischen Gemeinde an. Mehr als 30 Jahre lang hat er die Toten der Gemeinde gewaschen und auf die letzte Ruhe vorbereitet – im Gedenken an seine von Deutschen ermordeten Eltern und Geschwister. Am 8. August 1996 ehrte die Jüdische Gemeinde Hamburg Rudi anläßlich seines 89. Geburtstages mit einem Empfang. Bei und neben ihm natürlich seine Flora.

Flora wurde am 23. Februar 1911 ebenfalls in Hamburg geboren. Nach ihrer Schulzeit an der Mädchenschule der Deutsch-Israelitischen Gemeinde arbeitete sie in einer Hamburger Baumwollspinnerei. Trotz jahrelanger Akkord- und Schichtarbeit engagierte auch sie sich bei den „Jüdischen Arbeitnehmern“, wo sie Rudi kennenlernte. Obwohl beide Kommunisten waren, ließen sie sich am 4. September 1931 in der Bornplatz-Synagoge vom Oberrabbiner Spitzer trauen – Rudis frommem Vater zuliebe.

Nachdem Flora in Belgien von Rudi getrennt worden war, schloß sie sich dem Widerstand an. 1942 wurde sie verhaftet, im Januar 1943 nach Auschwitz verschleppt. Ihren siebenjährigen Sohn Bernd hatte sie noch rechtzeitig in einem Kloster verstecken können. Flora überlebte Auschwitz und die Todesmärsche im Januar 1945. Es grenzt an ein Wunder, daß sich alle drei nach der Befreiung und dem Kriegsende in Belgien wiederfanden. Seit Anfang der 50er Jahre leben sie wieder in Hamburg.

Für Flora, „die Frau mit der Auschwitz-Nummer 74559“ (Hamburger Abendblatt), ist Antifaschismus keine inhaltsleere Worthülse und politisches Engagement eine Selbstverständlichkeit. Sie warnt vor altem Antisemitismus und neuer Fremdenfeindlichkeit. Ihre Lebensgeschichte hat sie aufgeschrieben und mit Hilfe junger Freunde unter dem Titel Erinnern, um zu leben. Vor Auschwitz. In Auschwitz. Nach Auschwitz. herausgegeben. An ihre jugendlichen Leser richtet sie den eindringlichen Appell: „Wehrt Euch gegen jede Art von faschistischen Gedanken und Taten!“

Auf der Einladungskarte zur Hochzeitsfeier schreiben sie: „Laßt Euch durch das Wörtchen ,Eisern' nicht abschrecken. Wir beiden sind immer noch lebendig genug, und wir sind noch lange nicht verrostet, vernagelt oder verhärtet.“ Fürwahr, es gibt nur wenige Menschen ihres Alters, die so offen, so fröhlich, so warmherzig und kinderfreundlich – dabei politisch interessiert und engagiert – geblieben sind.

Alles Liebe und Gesundheit weiterhin für Flora und Rudi!