Lachen trotz Leidensdruck

■ Selbsthilfetage '96 wollen Vielfalt der rund 3.000 Selbsthilfegruppen sichtbar machen. Gruppen entwickeln sich immer mehr zur kostengünstigen Dienstleistung

Krankheiten, Wut, Trauer und Einsamkeit überwinden ist nicht einfach. Es gibt unzählige Leiden, über die nicht geredet wird, weil keine adäquaten GesprächspartnerInnen vorhanden sind. Abhilfe schafft die Selbsthilfe. In mittlerweile rund 3.000 Gruppen und Projekten sprechen Betroffene nicht nur über ihre Probleme, sondern versuchen auch, gemeinsam Lösungen zu finden. Und es werden immer neue Gruppen gegründet, zum Beispiel für Psychotherapiegeschädigte, für Angehörige von Alzheimer-Kranken, für Nichtraucher, Kleptomanen und Kaufsüchtige.

Doch obwohl die persönliche Betroffenheit die Selbsthilfegruppen zusammenbringt, heißt das nicht, daß die TeilnehmerInnen sich dauerhaft als Opfer sehen: „Der Leidensdruck ist da“, sagt Erika Bülow, „doch wir lachen auch ganz oft und sind fröhlich.“ Die 49jährige ist seit fünf Jahren in einer Kinderlähmung-Spätfolgen- Gruppe: „Früher dachte ich, solche Zusammenschlüsse sind Quatsch, heute bin ich ein Fan davon.“ Auch Helga Schneider- Schelte, Mitarbeiterin der Selbsthilfe Kontakt- und Informationsstelle (SEKIS), bestätigt, daß es ein Vorurteil sei, daß in Selbsthilfegruppen nur „gejammert“ werde. Die Gruppen seien deswegen so effektiv, weil die Teilnehmerinnen die gleichen Probleme hätten. Zusammen seien sie leichter zu lösen. „Welcher Arzt weiß schon, welche Schiene wirklich paßt“, fragt Erika Bülow, „das wissen wir viel besser.“

Und diese Effektivität wird von den Professionellen immer häufiger genutzt. Als der damalige CDU-Senator für Soziales, Ulf Fink, 1983 erstmals Gruppen mit Mitteln aus dem von ihm geschaffenen Selbsthilfe-Topf – rund 7,5 Millionen Mark – förderte, sahen viele ÄrztInnen und Wohlfahrtsverbände die dynamischen, unbürokratisch organisierten, vielfach gesellschaftspolitisch motivierten Gruppen und Grüppchen mit Skepsis, teilweise sogar als Konkurrenz. Heute ist das aufgrund der schrumpfenden Leistungen des Gesund- und Sozialsystems völlig anders. „Die Ärzte sind froh, wenn sie ihre Patienten in Selbsthilfegruppen unterbringen“, resümiert Helga Schneider-Schelte, die seit 1991 bei SEKIS arbeitet. Gleichzeitig haben sich auch die Erwartungen an die Gruppen verändert: „Neue Teilnehmer sehen in der Selbsthilfe häufig eine Dienstleistung, die sie beliebig benutzen können und wollen sich selbst nicht mehr engagieren“, beklagt Erika Bülow.

Doch die Dienstleistung wird schlecht oder überhaupt nicht bezahlt. Christel Held, die seit zehn Jahren bei den „Silberdisteln“ mitmacht, ärgert sich, daß Selbsthilfeprojekte immer weniger finanzielle Unterstützung bekommen. Jeder Platz in der völlig überlaufenen Gruppe für alleinstehende ältere Menschen spare 100 Therapiestunden jährlich, hat die 66jährige ausgerechnet. Die Zuwendung für die 25 Silberdisteln dagegen ist lachhaft: 960 Mark im Jahr.

1996 hat der Senat Selbsthilfeprojekte und -gruppen im Nachtragshaushalt nur 1,85 Millionen Mark Anschubfinanzierung bewilligt. Weitere Kürzungen sind nach Angaben von Gabi Lukas, Sprecherin der Senatsverwaltung für Soziales, auch in diesem Bereich zu erwarten. Die Ausdünnung der Mittel treffen besonders die 21 Kontaktstellen, die die Gruppen in den Bezirken koordinieren, besonders hart. Sie stellen die Infrastruktur für die Selbsthilfegruppen bereit, Räume, Kopierer, Schreibmaschine und geben Hilfestellungen bei der Öffentlichkeitsarbeit. So ist SEKIS gezwungen, von den Gruppen ein geringes Entgelt für die Raumnutzung zu nehmen. Helga Schneider-Schelte geht davon aus, daß die Projektelandschaft zukünftig kleiner werde. Ihre Prognose: „Gruppen haben nur eine langfristige Chance, wenn sie bei großen Trägern angesiedelt sind.“ Auch über neue Wege, wie Sponsoring von Selbsthilfeprojekten durch Firmen, müsse zukünftig nachgedacht werden. Julia Naumann

Unter dem Motto: „Wir machen die Vielfalt sichtbar“, finden vom 7. 9. bis 19. 9 die Selbsthilfetage '96 statt. Heute gibt es einen Sozialmarkt in der Wustrower Straße 14 (Hohenschönhausen) und eine Selbsthilfe- Infobörse in der Rubensstr.63 (Schöneberg). Am 11. 9. findet im Nachbarschaftsheim Schöneberg in der Fregestraße 52 um 19 Uhr ein Vortrag über die aktuellen Strukturveränderungen in der Selbsthilfelandschaft statt. Am 14. 9. ist Aktionstag bei SEKIS, Albrecht- Achilles Str. 65 in Charlottenburg und ab 19 Uhr eine Party im Nachbarschaftsheim Mitteldorf in der Königstraße 42 (Zehlendorf).Weitere Informationen bei SEKIS, Tel.: 892 66 02.