Lovely, pretty, nice!

Auch in „good old Germany“ wie in Rothenburg ob der Tauber bleibt die Zeit nicht nur stehen. Die Fremdenführerin Gertrude Wagner erzählt  ■ Von Heide Platen

Die Sonne brennt heiß auf den Marktplatz von Rothenburg ob der Tauber. Auf der Rathaustreppe ist Babylon, mit so vielen Zungen reden die rastenden Touristen. Und mit so vielen Zungen schlecken sie Eis. „Come and enjoy!“ wirbt auch Gertrude Wagner. Sie ist 74 Jahre alt und seit 42 Jahren Fremdenführerin in Rothenburg. Ihr Haus in der Herrnstraße mit dem gotischen Treppengiebel steht da seit über 700 Jahren. Ihre Eltern haben es 1918 gekauft. Sie hat es nach und nach instand gesetzt: „Es ist ein Teil meines Lebens geworden.“ Nun sieht es hinter den Bogenfenstern und Spitzengardinen ein bißchen aus wie in einem bewohnten Museum. Für das Haus, das feucht war und baufällig, hat sie, manchmal zum Ärger ihres Mannes, „sparsam und genügsam“ gelebt. Ihre Führungen haben ihr den Blick geschärft, nicht nur für die Fremden, sondern vor allem für die RothenburgerInnen.

In einem kleinen Fotoalbum sind ihre Führungen wie Spaziergänge zu alten Bekannten festgehalten. Manche der Menschen, die da aus den Fenstern schauen, sind längst gestorben und leben nur in ihrer Erinnerung fort. Da schaut der Herr Egerer heraus aus dem Scharfrichterhaus im Freudengäßle, da die Susi, die an Krebs gestorben ist. Da ist der alte Herr, der nur einen Herzenswunsch hatte: einmal das schöne, schwarze Haar einer Japanerin anfühlen können. „Die sind fast alle nicht mehr da“, sagt Gertrude Wagner, die ihre Stadt, auch als Fremdenführerin, „mit dem Herzen“ sieht.

Romantisierung ist aber auch nicht ihre Sache. Da wird sie richtig ärgerlich und zaust sich mit der Hand das kurze, eisgraue Haar: „Ich will nichts verkünsteln.“ Einfach und primitiv hätten die Menschen im Mittelalter gelebt, das lasse sich nicht mit falscher Rückwendung „auf die heutige Zeit übertragen“. Angebote wie Ritter-Gelage in der Gastronomie oder die „Märchen-Fresserei“ findet sie deshalb „nicht so zu empfehlen“.

Gertrude Wagner hat beobachtet, wie sich der Tourismus im Lauf der Jahre verändert hat. Das „beschauliche Genießen“ sei vorbei. „Europe in Eleven Days“ ist für die Japaner, inklusive Flug, zu acht Tagen geschrumpft: „Die werden nur noch gescheucht.“ Früher ist sie mit ihren Gästen für zwölf Mark die Stunde auf den Berg bis zur Engelsburg gegangen, der Stadtansicht wegen. Heute bleibt dafür gar keine Zeit mehr. Die „Riesenarmut in der Welt“ auf der einen Seite, der Reichtum und die „Hektik des Wünschens“, der Erlebnishunger auf der anderen, das paßt für sie nicht mehr zusammen. Geblieben sind ihr viele Freunde aus den USA und Japan, die sie immer wieder besuchen. Aber auch das wird seltener: „Die sind alt geworden.“ Die heutigen Fremdenführer sind ihr oft zu geschwätzig: „Die reden zuviel, zeigen aber zuwenig.“ Sie habe sich immer bemüht, durch „kleine Einblicke das große Ganze sichtbar zu machen“.

Verkehrsdirektor Johann Kempters Visitenkarte ist vorn in Fraktur, hinten japanisch bedruckt. In seinem Büro geht es heute um Fäkalien, einheimische und touristische. Eigentlich sollte das Burggartenfest am Vortag ein Vergnügen sein. Aber da war dieser Toilettenwagen. Kempter bemüht sich um Contenance. Nein, der Standort habe sich nicht ändern lassen, weil kein Toilettenwagen durch das Burgtor hindurchpaßt, auch nicht der allerkleinste. Nein, es gibt auch keinen, der nach nichts riecht: „Nein, ich kann doch die Brühe nicht einfach den Berg runterlaufen lassen.“

Ob er Touristen noch sehen kann? Kempter sagt es höflich: „Ich werde mich nicht täglich um neue Gäste bemühen.“ Knapp 12.000 EinwohnerInnen müssen jährlich geschätzte 2,5 Millionen TagesbesucherInnen verkraften. 410.000 Übernachtungen sind 1995 gezählt worden, Tendenz wieder knapp steigend. Die Verweildauer in den 3.043 Betten ist kurz, durchschnittlich anderthalb Tage. Die Hälfte der Gäste kommt aus dem Ausland, die meisten aus Japan.

Das Produkt „Romantische Straße“ ist nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Es sollte das schlechte Image Deutschlands im Ausland verbessern helfen. Angeboten wurde die Reiseroute mit den Stationen Neuschwanstein, Heidelberg und Rothenburg: „Man mußte nichts neu erfinden.“

Zur wirtschaftlichen Lage der Stadt stapelt der Verkehrsdirektor tief: „Es geht uns nicht so schlecht wie vielen anderen.“ Aber: „Die Insel der Glückseligen ist Rothenburg auch nicht mehr.“ 1995 habe es zwar mehr Übernachtungen gegeben, aber der Umsatz gehe zurück. Der wird auf 100 Millionen Mark geschätzt. Die Kosten für die Müllentsorgung liegen ungefähr zehn Prozent über denen anderer Gemeinden.

Viele Touristen verlieren auch viel. Aber die Rothenburger sind ehrliche Häute. Sie geben im Fundamt Brillen, Fotoapparate und Schirme ab, aber auch Geldscheine verschiedenster Währung und eine Flasche Motorenöl.

Da war das Mittelalter krimineller. „Wer jetzt noch durch die Straßen rennt, ist ein verdächtig' Element“, erweitert ein Gast aus Berlin das einschlägige Repertoire von Hans-Jürgen Baumgartner. Baumgartner ist seit fünf Jahren Nachtwächter in Rothenburg und führt die Fremden in der Dunkelheit. Ein paar besonders tückische Touristen hat er diesmal dabei. Die laufen mit und zahlen nicht. Baumgartner bleibt bei Laune, schultert die Hellebarde und schwingt seine langen Beine unter dem schwarzen Cape in Richtung Burggarten. „Schließlich waren Nachtwächter im Mittelalter auch schon Leichtlohngruppe.“

Überhaupt das mittelalterliche Leben! Es stank zum Himmel, überall Dreck, Schweine wühlten im Unrat: „Die Gasse war eine Gosse.“ Bettelarm ist die ehemals reiche Stadt im 30jährigen Krieg geworden. Hohe Kriegslasten und eine Pestepidemie gaben ihr den Rest. Sie verfiel, so Baumgartner, in einen „Dornröschenschlaf“: „250 Jahre geschah hier einfach nichts.“ Und: „Wir sind heute so reich, weil wir so arm waren.“

„Dornröschenschlaf“, so hatten das auch schon Johann Kempter und Gertrude Wagner genannt. Wenig wurde weggeworfen in Rothenburg. Heute füllt das Aufgehobene die zahlreichen Museen. Kaum ein Haus wurde abgerissen, allerdings wurde auch nicht saniert. Die Stadt ist erst Anfang dieses Jahrhunderts, als Reisende sie als mittelalterliche „Perle an der Tauber“ entdeckten, wiedererwacht. Denkmalschutz, hatte Verkehrsdirektor Kemptner gesagt, sei eben „keine Fassadenkosmetik“. Nicht jeder kann hier so einfach sein Geschäft eröffnen. Der Laden muß „in das Gesamtbild passen“: „Wir wollen nicht in jedem Haus ein Büdchen.“ Hotelketten gibt es in Rothenburg nicht: „Das sind fast alles Familienbetriebe.“ Rothenburg will nicht German Disneyland sein. Deshalb gebe es auch keine Fußgängerzonen. Die insgesamt immerhin 4.000 AltstadtbewohnerInnen sollen ihre Wohnungen auch mit dem Auto erreichen können. Sie bekommen, wie die Hotelgäste, Anwohnerplaketten.

Nein, sagt Kemptner, die neue Zeit läßt sich aus Rothenburg nicht aussperren. Aber, sagt er, und lächelt fein, in der Schmiedgasse ist dank der Fassadenordnung der einzige McDonald's-Imbiß der Republik mit einem zierlichen schmiedeeisernen Ausleger mit großem „M“ in der Mitte zu besichtigen. Viele Wohnstraßen seien für Läden und Wirtshäuser ganz tabu: „Die Touristen sollen nicht verteilt werden, sondern auf einem Haufen bleiben, auch wenn sich die Gäste an sich selber stören.“

Und die Schneeballen, Kugeln aus kräuseligem Hefeteig, die an jeder Ecke feilgeboten werden, passen die zu Rothenburg? Kempter: „Die tun nur so, als ob sie eine Spezialität wären. Die sind weit weg vom originären fränkischen Hefegebäck, das es früher nur an hohen Festtagen gab.“ Inzwischen gibt es sie in vielen Farben, mit allen denkbaren Zutaten. Und sie kommen, verrät Gertrude Wagner verärgert, „fast alle von demselben Hersteller“.