Wege zum finalen Film

■ Der Film "Das geschriebene Gesicht" über den Kabuki-Schauspieler Tamasaburo Bando verwischt bewußt die Grenze zwischen Fiktion und Dokumentation. Ein Interview mit Regisseur Daniel Schmid

taz: Sie haben gemeinsam mit Rainer Werner Fassbinder an der Berliner Filmakademie studiert ...

Daniel Schmid: „Liebe ist kälter als der Tod“ wurde damals gerade gedreht. Fassbinder sagte zu mir: „Wie lange willst du noch auf dieser doofen Schule bleiben? Du wirst eh nie Filme machen, du bist ein verwöhnter Schweizer!“ Da habe ich gedacht, das lasse ich mir nicht bieten, und bin weg.

Wo haben Sie am liebsten gedreht?

Der erste Film, „Tut alles im Finstern“, spielt in Venedig, der zweite, „Heute nacht oder nie“, im Hotel meiner Großeltern in Graubünden. In Marokko „Hècate“, in Wien „Schatten der Engel“, „Kuß der Tosca“ in Italien, „Zwischensaison“ in Portugal, „Geschriebenes Gesicht“ in Japan. Also ein Grenzgänger. Ich bin eigentlich auf der Grenze aufgewachsen. An der Landesgrenze zu Italien, Österreich und der Schweiz. Das heißt, man ist ein Leben lang Schmuggler – zwischen Fiktion und Dokumentation, zwischen wirklich und unwirklich, „Traum“ und „Realität“.

„Das geschriebene Gesicht“ ist demzufolge kein Dokumentarfilm?

Nein, das würde ich nicht sagen. Ich glaube nicht an diese Trennung. Ich habe schon ein Problem, Realität hier und jetzt festzulegen. Da müßten wir uns mal einigen, was das wäre. Realität mit einer Kamera wiederzugeben, das ist ja immer ein verlogener Anspruch. Was uns als Wirklichkeit – im Fernsehen – verkauft wird, ist eigentlich eine verbogene Sache.

Ich habe dazu zwei Bilder aus sogenannten Dokumentationen, die ich fiktiv finde, phantastisch. Das eine Bild zeigt, wie der Golfkrieg losbricht, auf dem anderen ist dieses alte Gangster-Ehepaar aus Rumänien, die Ceaușescus, kurz bevor sie erschossen wurden in diesem Schulzimmer. Jede Minute kommt die Polizei, ihre Polizei, und verhaftet alle. Die haben eine eigene verrückte Realität, die sie haben müssen als Gangster-Diktatorenpaar, vor dem 30 Jahre lang alle Leute zitterten. Das war gar nicht zu inszenieren, so verrückt war das.

In jeder Fiktion gibt es Manipulationen, also bewußte Arrangements. Ich mag Formen, Formbewußtsein. Zuerst muß man die Technik haben, dann kann man spielen. Ich hasse Improvisation. Obwohl ich sehr oft ohne Drehbuch arbeite und im letzten Moment alles ändere. Aber ich glaube, sogar in jeder kontrollierten Fiktion – also inszenierten Realität – gibt es plötzlich sogenannte dokumentarische Momente, die hereinkommen und sich ungeplant einmischen. Auch da bin ich wieder Grenzgänger.

Was hat Sie bei der Arbeit an „Das geschriebene Gesicht“ am meisten interessiert? Die strenge Form des japanischen Kabuki- Theaters?

„Das geschriebene Gesicht“ hat nicht den Anspruch, ein Film über Japan zu sein. Dazu war mir von Anfang an das Unbegreifliche, das Geheimnisvolle dieser Zeichen, die ich nicht erkennen kann, zu bewußt. Ich dachte, es funktioniert am ehesten, indem ich ganz naiv wie ein Kind da herangehe. Ich habe oft den Übersetzern gesagt, sie sollen still sein. Denn wenn man ständig versucht, es „richtig“ zu machen, ist man am Ende völlig blockiert. Das Thema waren Menschen in Japan, die mich berührt haben, seit ich 1982 das erste Mal da war. Ein Japaner hätte diese Menschen vielleicht gar nicht zusammengebracht. Dafür muß man nämlich so eine ignorante Chuzpe haben, denn das sind alles Vertreter unterschiedlicher Hierarchien, die kaum miteinander zu tun haben. In Japan läuft der Film sehr erfolgreich und wird als Dokument einer sterbenden Welt gesehen.

Sind die uralten Geishas und die Onagata [Frauendarsteller], die Sie in Ihrem Film zeigen, die letzten Diven dieser Kunstform?

Erst einmal sind die Onagata Männer, die Frauen nur andeuten. Es ist nie eine Überschreitung und auch nicht diese okzidentale Travestie, dieses Augenzwinkern. Im Tokioter Fernsehen gibt es jetzt Luxushostessen, die sich Geishas nennen. Aber das hat mit diesem jahrhundertealten Beruf nichts mehr zu tun. Eine 20jährige Ausbildung – Instrumente, Tanz, Teezeremonien gehören zur klassischen japanischen Geisha-Ausbildung. Die vierjährige Ausbildung zum Teezeremonie-Meister gleicht einer universitären Schulung. In den Tempelgärten gibt es Gärtner in der 18. Generation, die jeden Tag kleine Bäumchen beschneiden. Die stehen dann bei uns in Boutiquen herum. Da schneiden die seit Jahrhunderten in bezug auf eine Form, die der Baum in 250 Jahren haben soll. Ich kann das selber nicht begreifen oder als Europäer nachvollziehen.

Haben Sie Ihren Film also gemacht, kurz bevor die traditionelle japanische Kunstform des Kabuki buchstäblich ausstirbt?

1982 war ich das erste Mal in Japan. In der ersten Nacht hat mich jemand mitgenommen ins Kabuki. Da habe ich Tamasaburo Bando das erste Mal gesehen. Bei der Ankunft sah ich Plakate von ihm: „Welcome to Japan“. Er war ein Superstar in Japan seit drei Generationen. Seit er fünf ist, spielt er zweimal am Tag. Als er 13 war, trat er in einem Stück auf, daß Mishima für ihn geschrieben hatte. Han Takehara, die 93jährige Tanzlegende, unterrichtet zwar noch, sagt aber, daß die Zeit für ihre Kunst zu Ende sei. Die Zeiten, als Japan und Geishas dasselbe waren wie Italien und Spaghetti, sind vorbei.

Mußte jemand von außen kommen, um diesen Film zu machen?

Er war möglich, weil ich als Ausländer mit einer gewissen Ignoranz und einem kindlichen Terrorismus ankam und fragte: Bitte, gnädige Frau von 92, nochmal ins Kostüm. Bitte zeigen Sie mir, was ist eine Bewegung – und Han Takehara machte das ...

... auch in dem Wissen, daß das, was sie vorführt, gar nicht vollständig verstanden wird?

Genau, wobei es mir nicht um Verstehen geht. Ich habe selber nie Antworten, nur Fragen. Ich habe nie einen Film gemacht, der eine message hat – also wo man rausgeht und sich dann von seiner Frau scheiden läßt. Ich hasse diese Filme, die einem sagen wollen, was man zu tun und zu lassen hat. Ich habe eigentlich immer von einem Kino geträumt, das nur eine Vorlage ist für die eigene Spekulationsfreudigkeit; daß der finale Film nur entsteht, wenn man selbst investiert. Weil der Zuschauer nicht belehrt werden will.

Das Interview führte Gudrun Holz