Die Jungen reden ...

... und die Alten kommen gucken: Das deutsch-tschechische Jugendtreffen wurde für die Öffentlichkeit als Beginn einer Freundschaft inszeniert. Tatsächlich verstehen sich die Jugendlichen längst besser als die Politiker  ■ Aus Polička Daniela Weingärtner

Bis zum 3. September hat kaum einer in Deutschland den Ortsnamen Polička gekannt, Polička in Ostböhmen. Svitavy schon eher, das liegt 15 Kilometer entfernt, da ist Oskar Schindler geboren. Für Musikliebhaber ist vielleicht Litomysi ein Begriff, auch nicht weit von hier. Da stand die Wiege von Smetana.

Jetzt auf einmal soll Polička als Symbol herhalten für die deutsch- tschechische Verständigung. Denn die Jugend begegnet sich hier, unter den Augen der Öffentlichkeit. Die Präsidenten beider Länder haben sich angesagt, zwei Minister und viele Funktionäre.

Drei Tage lang prägen die Deutschen das Bild von Polička. Sie schlendern über den renovierten mittelalterlichen Marktplatz. Im Foyer des kleinen Theaters haben sie Werbeplakate deutscher Jugendgruppen aufgehängt und Aufrufe gegen Rassismus. Und wer den Fernseher anschaltet, der hört Matthias aus München in den tschechischen Hauptnachrichten. Noch vor Michael Jackson.

In den Internatsräumen der Schulen hat die Stadt für 150 junge Gäste aus Deutschland Platz geschaffen. Das Mittagessen servieren Kellnerlehrlinge aus der Fachhochschule formvollendet im Frack. Und wer dem Massenbetrieb für eine Weile entkommen möchte, der wählt eines der Restaurants im Städtchen. Das Menu kostet keine vier Mark – weniger als die Mensa in Deutschland.

Im Hotel Opus, dem klapprigen Plattenbau-Ungetüm aus sozialistischer Vorzeit, nächtigen die deutschen Funktionäre. Jugendsportbund, Bundesjugendring, Naturjugend, Falken und junge Katholiken – Berufsjugendliche aus allen Bereichen, die die dreißig schon lange hinter sich haben. Sie kauen tapfer das angebrannte Rührei, schlucken den Hagebuttentee, ohne eine Miene zu verziehen. Nur manchmal murmelt einer, daß ihn hier manches an früher erinnere: abgewetzte, braune Polyesterteppichböden, schwankendes Mobiliar aus Kunststoff und Preßspan. Mit früher meinen die Gäste aus Deutschland: vor der Wende.

Der alte Herr unten in der Portiersloge schweigt sich darüber aus, ob ihn in diesen Tagen manches an früher erinnert. Früher, das heißt für ihn vielleicht Frühjahr 1939. Am 15. März marschierte die deutsche Wehrmacht in Polička ein. Sie blieb bis Kriegsende, obwohl nur 149 deutschsprachige Bewohner in der Stadt lebten. Erst 15 Kilometer östlich, in Zittau, beginnt das Schönhengstland. Dort sympathisierten fast alle Deutschen mit der nazitreuen Henlein-Bewegung. Nach dem Krieg wurden 100.000 Deutsche aus Svitavy vertrieben.

Der alte Herr in der Portiersloge lächelt ganz fein, als er auf englisch mit eingebrocktem Deutsch nach seinen Sprachkenntnissen gefragt wird. Die älteren Leute hier mögen es nicht, wenn man sie ganz selbstverständlich auf deutsch anspricht. Jeder Beginn eines Gespräches folgt diesem Ritual – oder es gibt kein Gespräch. „Deitsch, ein wenig“, sagt also der alte Herr, und dann kann man loslegen, in normalem Tempo, denn natürlich versteht er jedes Wort. Er antwortet in wundervollem Speibl-und-Hrvinek-Singsang, und am Ende sagt er, ganz formvollendet: „Gnädiges Froilein, mein Froilein, Sie haben Ihren Kugelschreiben zurückgelassen.“

Auch drüben in der Fachhochschule, bei den Arbeitsgruppen, wird fast überall deutsch gesprochen. Die jungen Leute gehen ganz pragmatisch damit um: Die Bürger des kleinen Landes lernen eben die Sprache ihres großen Nachbarn – nicht umgekehrt. Für die Diskussion bleibt das nicht ohne Folgen. Die Deutschen haben ein Heimspiel. Der historische Arbeitskreis zum Beispiel wird von einem deutschen Geschichtsstudenten im achten Semester geleitet. Sein tschechischer Komoderator tritt kaum in Erscheinung. Bei der Gruppe Politik müht sich der deutsche Juso Matthias sichtlich darum, seinen tschechischen Mitstreiter Daniel in die Gesprächsleitung einzubeziehen. Aber dann steht er doch wieder allein vorn, strukturiert und moderiert, wie er's bei der Partei gelernt hat.

Wer von Gruppe zu Gruppe wandert, der wähnt sich in einer deutschen Veranstaltung mit Gästen aus Tschechien. Und es wandern viele. Schließlich ist das erste deutsch-tschechische Jugendtreffen ein Medienereignis. Am Dienstag morgen, im Pulk der Jugendminister beider Länder, reisen noch mehr Neugierige an. Auch die Minister Pilip und Nolte, die Jüngsten ihrer jeweiligen Kabinette, stecken „ganz spontan“ den Kopf durch die Tür. Dann schreiten sie zur Amtshandlung: Zwei Koordinungsstellen werden per Unterschrift besiegelt.

In Pilsen und Regensburg sollen zukünftig die Aktivitäten im deutsch-tschechischen Jugendaustausch zusammenlaufen. Pilsen verfügt über eine große germanistische Fakultät, in Regensburg wird Bohemistik gelehrt. Dennoch war der deutsche Vorschlag nicht unumstritten. Zuvor hatte die Bewerbung von München und Nürnberg zu diplomatischen Verwicklungen geführt, wie sie in deutsch- tschechischen Verhandlungen noch häufig vorkommen.

Nun sollen kleine Arbeitsstäbe ohne bürokratischen Wasserkopf entstehen. Sie werden alle Informationen sammeln, die für solche Vorhaben wichtig sind. Sie werden bestehende Gruppen miteinander in Kontakt bringen und Finanzierungsmöglichkeiten ausloten.

Für die Initiativen, die sich seit Jahren um deutsch-tschechische Verständigung bemühen, wird das eine Arbeitserleichterung bedeuten, keine Initialzündung. Denn im Jugendaustausch zwischen beiden Ländern steht Polička keineswegs für die Stunde Null. Die Politiker, die hier in bilateralen Verträgen und Goldenen Büchern ein kleines Kapitelchen Geschichte schreiben möchten, würden das vielleicht gern vergessen. Aber sie werden von den Jugendlichen schnell daran erinnert. Im Theater von Polička, bei der Podiumsdiskussion mit Claudia Nolte und Ivan Pilip, überreicht eine Schülerin des Gymnasiums Tangerhütte einen dicken schwarzen Ordner, der 21 Jahre Geschichte enthält. Die Geschichte des Schüleraustauschs zwischen Tangerhütte in der Altmark und Polička in Ostböhmen.

Für Claudia Nolte sind die Jugendbegegnungen zu DDR-Zeiten in der Rückschau nur „von oben verordnete Demonstrationen der Völkerfreundschaft“. Bei der Lehrerin und den Schülern aus Tangerhütte erntet die Ministerin mit dieser Bemerkung verständnisloses Kopfschütteln. Und den deutlichen Satz: „Polička ist unser zweites Zuhause.“

Auch die sudetendeutsche Jugend hat eine Dokumentation im Gepräck über zehn Jahre deutsch- tschechische Jugendarbeit. Sie wird nicht auf der Bühne überreicht, sondern den Journalisten diskret zugesteckt. Den Veranstaltern erspart das überflüssige Aufregungen, denn gegen sudetendeutsches Lobbying ist man hier aus verständlichen Gründen allergisch.

Aber die Lektüre zeigt, daß die sudetendeutsche Bewegung nicht nur aus dem Klüngel unbelehrbarer alter Herren besteht, der regelmäßig für Turbulenzen im deutsch-tschechischen Verhältnis sorgt. Das Heft beginnt mit einem bemerkenswerten Memorandum, das den Herren Kohl und Strauß beim 37. sudetendeutschen Pfingsttreffen vor zehn Jahren überreicht worden ist. Darin wird Bundeskanzler Kohl gebeten, sich für ein deutsch-tschechisch-slowakisches Jugendwerk nach französisch-deutschem Vorbild einzusetzen. Denn die sudetendeutsche Jugend habe „bei der Begegnung mit jungen Tschechen und Slowaken festgestellt, daß staatsrechtliche Konstruktionen im Herzen Europas der Vergangenheit keine Vorbilder für die gemeinsame Zukunft sind... Der Wille zu einer gemeinsamen Gestaltung der Zukunft wird bei der jungen Generation dadurch erleichtert, daß sie frei ist von belastenden Erlebnissen der Vergangenheit.“

Dieser Satz fällt so oder ähnlich auch zehn Jahre später in der Fachhochschule Polička, im Arbeitskreis Politik. „Nazizeit und Vertreibung – das liegt für uns so nah wie der 30jährige Krieg“, sagt Simon aus Prag in klarem Deutsch. Ganz so weit wollen die anderen nicht gehen. Aber Katerina fragt: „Warum sollen wir ständig über die Okkupation reden. Wir Jungen haben andere Sorgen – das Währungsgefälle, den Ausverkauf unserer Lebensmittel an der Grenze, unsere Zukunft in Europa. Die Schlußstricherklärung regt doch nur ein paar alte Männer auf.“ Alena aus Prag schüttelt den Kopf. „Mein Opa lebt in München. Ich habe ihn 1991 zum ersten Mal gesehen. Wir brauchen die Deklaration für Menschen wie ihn. Damit wir die alten Geschichten schlafen legen können, ein für allemal.“

Wieder wird die Tür aufgerissen. Aber diesmal kommt die Störung nicht ungelegen. Da steht, zierlich und tapfer lächelnd, Antje Vollmer, die Jeanne d'Arc der deutsch-tschechischen Versöhnung. Neben ihr der stellvertretende tschechische Außenminister Alexander Wondra. Er setzt sich auf den abgeschabten Blecheimer unter der Tafel und sagt: „Sie werden mich fragen, ob wir die Deklaration brauchen. Nun, ich habe ein Jahr lang daran gearbeitet. Klar bin ich der Meinung, daß wir sie brauchen.“ Und die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages setzt hinzu: „Sie werden auch fragen, warum diese Arbeit noch nicht zum Abschluß gekommen ist. Dazu braucht es Persönlichkeiten wie Havel und Mandela. Vor ihrem Versöhnungswillen verstummen die alten Leidensgeschichten. In Deutschland hätte Edmund Stoiber das gleiche bewirken können. Helmut Kohl könnte es noch immer. Wenn ich mich äußere, dann heißt es doch nur: Sie junges Ding ...“

Die viel jüngeren Dinger im Saal lachen. Sie brauchen nicht auf ein befreiendes Wort des Bundeskanzlers zu warten. Sie haben ihren Weg als Nachbarn in Europa längst gefunden.