Entdecke auch du das Huhn in dir!

Die spanische Krawalltruppe La Fura dels Baus gastiert mit „Manes“, ihrer neuesten Blut & Busen-Performance. Ariane Mnouchkine ergründet mit ihrem ThéÛtre du Soleil die Entstehungsbedingungen religiösen Fanatismus  ■ Von Petra Kohse

Die Schauspieler des ThéÛtre du Soleil kann man vor der Vorstellung beim Schminken beobachten. Zwischen Teppichen, Tüchern, Nippes, Sonnenblumen und Stofftieren malen sie sich vor ihren Spiegeln die Lippen, lassen ihre Schläfen ergrauen oder wickeln sich in ihre Kostüme. Daß sie die Publikumstrauben, die nur Zentimeter von ihnen entfernt wachsen, dabei in keiner Sekunde beachten, macht aus dem programmatischen Illusionsbruch eine Geste der Gastfreundschaft: die Gunst der Intimität als Vorbereitung auf ein Spiel, das sich, meist frontal zum Publikum, exakt komponiert und kalkuliert vollzieht.

Seit Samstag gastiert Ariane Mnouchkines ThéÛtre du Soleil mit Molières „Tartuffe“ bei den Festwochen in der Berliner arena. Es ist das einzige Gastspiel der Franzosen in Deutschland und das letzte mit dieser Produktion überhaupt. Zwei Stadtteile weiter hatte sich am Tag zuvor eine andere weltberühmte Truppe eingerichtet: die Aktionisten La Fura dels Baus zeigen „Manes“, ihre sechste Performance, im Tempodrom.

Bei den Katalanen gibt es nie einen Empfang. Wenn man den Schauplatz betritt, hat die Vorstellung jeweils schon begonnen. Ähnlich wie bei der Schminkprozedur des ThéÛtre du Soleil wird dadurch das Gefühl vermittelt, etwas nicht gezeigt zu bekommen, sondern daran teilzuhaben. Hier aber ist das keine Einleitung, sondern der ästhetische Hauptbestandteil der Inszenierung und durchaus aggressiv gemeint.

La Fura dels Baus, die sich 1979 als Straßentheater formierten, arbeiten seit 13 Jahren mit archaisch anmutenden Radikalaktionen. Mit Feuer, Fleisch, Blut und Wasser wird nicht gespart, das Spiel findet mitten unter den Zuschauern statt, und wer im Weg steht, ist selber schuld. „Manes“ verstehen sie als letzten Teil ihrer zweiten Trilogie.

Deren erster Teil, „Noun“ (1992), erzählte von der Entstehung der Gesellschaft, in „MTM“ (1994) konkretisierte sich die Zivilisations- zur Kommunikationskritik. Mit imposanten Apparaturen wurden zunehmend komplexe Machtsituationen nachgespielt, wobei das Geschehen sowohl in Echtzeit als auch, brutal manipuliert, auf einer Videowand beobachtet werden konnte. Der technische Anspruch ließ das fortgesetzte Spiel im Publikum jedoch einigermaßen sinnlos wirken, und daß „MTM“ mit einer Erlösungssequenz endete, machte die ganze Sache nicht besser.

Mit „Manes“ nehmen La Fura dels Baus nun gewissermaßen eine Kurskorrektur vor. Der technische Aufwand ist gering, statt Techno wie in „MTM“ gibt es Drum & Bass. Anfangs findet man ein Götterpaar beim Ritualgrillen auf offener Flamme vor. Sie reichen sich Fleischstreifen, wetzen die Messer und schlagen am Ende auf Holzeier, die in Großformat daraufhin durchs Publikum gerollt werden: gebogene Holzlatten, durch Metallbänder zusammengehalten. Immer wieder bugsieren sie die Darsteller an andere Plätze.

Wozu man ein Huhn gebrauchen kann

Ein Wagen schiebt sich durchs Zuschauergedränge, offensichtlich Sinnesverwirrte werden vorbeigetrieben, Frauen legen zuckende, wimmernde Bündel auf den Boden. Später gebiert eine Darstellerin ein Huhn. Noch später werden Pfähle mit Brettern verbunden und mit Planen nach einer Seite abgehängt: eine Bühne! Die Truppe setzt sich zu einem Vesper, danach gibt es hinter den Planen eine richtige Szene zwischen der Hühnermutter und einem Mann. Sie will das Huhn braten, er sich an ihm befriedigen. Eine Buffo-Nummer, die in einem onanistischen Duett endet. Das Publikum schiebt sich wieder auf die Vorderseite der Bühne, wo die Holzeier nach oben gehievt werden. Alle Darsteller kriechen hinein und leuchten mit Lampen nach außen. Ende.

Was soll das bedeuten? Das Huhn ist in dir? Die Rückkehr ins Ei ist möglich, die Furcht vor dem Dunkel aber zeigt: Du bist schuldig? Eigentlich möchte man es gar nicht wissen. Die Buffo-Szene aber ist bemerkenswert. Eine Rückkehr zum Volkstheater – wohl im Bewußtsein, daß sich die Aktionskraft erschöpft hat. So haltlos gespielt wie hier, wird aber auch dadurch höchstens ein Sympathielachen provoziert.

Ganz anders beim ThéÛtre du Soleil. Ariane Mnouchkine, die die Truppe vor 32 Jahren gründete, ist eine Meisterin der Klarheit und disziplinierten Sinnlichkeit auf dem Theater. Anleihen an fernöstliche Mittel verlieh etwa ihren „Atriden“-Inszenierungen allerdings einen Hauch von Folklore. Der „Tartuffe“ kommt ohne das aus.

Mnouchkine hat die Geschichte vom Parasiten Tartuffe, der sich im Hause Orgon breitmacht, in die islamische Welt verlegt. Der charismatische Frömmler ist hier ein Mullah und tritt oft mit einer sechsköpfigen Bruderschaft auf. Der Hausvater ist ihm ergeben und wirft ihn erst hinaus, als er Zeuge wird, wie Tartuffe um seine Frau Elmire buhlt. Da aber hat er ihm schon das Anwesen per Schenkung vermacht und ihn auch sonst in alle Geheimnisse eingeweiht. Als Tartuffe mit einem Polizisten aufkreuzt, wendet sich das Blatt gerade noch rechtzeitig. Der Polizist ist ein Gesandter des Königs, dem der Schwindler Tartuffe schon aufgefallen ist. Tartuffe wird verhaftet, Happy-End.

Happy-End? Wohl kaum. Bei Mnouchkine ist Molières Stück eine Komödie der Grausamkeit. Auf weiter, weiter Bühne (Guy- Claude François), deren seitliche Holzschränke aneinandergebaut sind wie Grabstätten, entfaltet sich rituelles, fast zum Scherenschnitt reduziertes Volkstheater. Keiner macht eine Bewegung, die sich zu seiner Rede nicht vollkommen analog verhielte. Dennoch hält der Wechsel von Statik und Arrangements zu Läufen und Buffo-Einlagen die Spannung aufrecht.

Wie man dem Publikum Angst macht

Wenn die Mullahs zum ersten Mal auftreten haben sie blutverschmierte Tücher in der Hand, und über Lautsprecher dröhnen arabische Klänge und die hysterischen Schreie Tausender. Wie sie da plötzlich die häuslich-lichte Idylle verfinstern, ist beängstigender als Hunderte von katalanischen Darstellern, die plötzlich hinter einem auftauchen. Noch beängstigender ist, daß Mnouchkine den bekannten Verlauf der Geschichte immer wieder im Unklaren läßt. Man wittert in der Komödie den Tragödiengehalt – schließlich hat Orgon seine Familie Tartuffe ja freiwillig ausgeliefert.

Und als sich der Polizist für die Verhaftung Tartuffes am Ende großzügig aus der Schmuckschatulle bedient und sich die Familie dabei ostentativ umdreht, weiß man, daß die Geschichte tatsächlich auch anders hätte verlaufen können. Ganz unpathetisch prangert Mnouchkine die Perfidie des Fanatismus an. Und zeigt zugleich, daß er nur da eine Chance hat, wo man ihn zuläßt.

Wie es kommt, daß diese Inszenierung wirkt, als wäre sie sacht auf eine Eisfläche gekratzt, ist das Geheimnis Mnouchkines. Daß sie vielfach erhellender, bedrohlicher und bewegender ist als eine Feuer- Huhn-und Rückenstoß-Performance, steht außer Frage. Die Grenze zwischen aktiver und passiver Beteiligung, an der sich La Fura dels Baus immer noch ästhetisch abarbeiten, wird in Mnouchkines „Tartuffe“ selbst zum Thema. Und gerade weil es hier eine Rampe gibt, offenbaren sich erschreckende Strukturen.

La Fura dels Baus: Bis 22.9. im Tempodrom (Di–So); ThéÛtre du Soleil: noch 10.–14.9. in der arena, beides Berlin