"Die Bäume wachsen schneller"

■ Der Freiburger Wachstumskundler, Professor Heinrich Spiecker, beschreibt den Zustand unserer Wälder

Für große Aufregung hat eine Studie des Europäischen Forstinstituts gesorgt, nach der das Wachstum der Wälder Europas deutlich angestiegen ist. Die Ursachen und Konsequenzen erklärt der Projektleiter der Studie, Professor Heinrich Spiecker, Forstwissenschaftler und Direktor des Instituts für Waldwachstum der Universität Freiburg.

taz: Herr Professor Spiecker, daß der Wald wächst, ist von der Öffentlichkeit so verstanden worden, daß die Wälder sich erholt haben, von einem Waldsterben mithin keine Rede mehr sein kann.

Heinrich Spiecker: Ich sage nicht, die Bäume wachsen besser, sondern sie wachsen schneller. Und ich werte auch nicht. Ich habe weder von einer Entwarnung für das Waldsterben gesprochen noch davon, wie Wachstum und Gesundheit der Bäume zusammenhängen. Da bin ich mißverstanden worden.

Das Ergebnis Ihrer Studie steht also nicht im Widerspruch zum Waldschadensbericht aus dem Jahr 1995, nach dem beispielsweise in Baden-Württemberg über ein Viertel der Bäume deutlich geschädigt sind?

Unsere Studie bezieht sich auf Zeiträume von bis zu hundert Jahren, und da haben wir einen deutlichen Wachstumstrend festgestellt. Die Schadensklassen beziehen sich aber nur auf die Benadelung, auf die man seit ungefähr zwanzig Jahren wie gebannt schaut. Ich denke als Wachstumskundler in anderen Zeiträumen. Ich möchte auch nicht gern von einer kurzen Periode extrapolieren. Den Fehler hat man zu Beginn der Waldschadensforschung gemacht.

Sie meinen also, die Waldschäden seien nur ein Zwischenspiel?

Es könnte eines sein.

Sie bestreiten aber nicht, daß es großflächige und vorher nie dagewesene Waldschäden in den siebziger Jahren gegeben hat?

Wenn mir jemand sagt, Ende der siebziger Jahre war der Waldzustand, bezogen auf die Benadelung der Bäume so schlecht wie dreißig Jahre zuvor nicht, würde ich dem zustimmen. In dieser Zeit stellten wir auch einen vorübergehenden Zuwachsrückgang fest.

Weil der Wald entgegen der Prognosen aus den achtziger Jahren nicht gestorben ist, wird aber jetzt gesagt, das mit dem Waldsterben sei blanke Hysterie gewesen.

So könnte man argumentieren, wenn man unsere Studie nicht kennt. Aber aufgrund der Studie müssen wir festhalten, daß sich die Wachstumsbedingungen europaweit geändert haben. Wir haben es mit neuen Umweltsituationen zu tun, und ich sehe das mit Besorgnis. Die Zukunft ist unsicher, wir wissen nicht, wie es weitergeht. Das ist Grund genug, Vorsorge zu treffen und mögliche Ursachen dieser Veränderungen einzuschränken, wo es nur geht.

Worauf führen Sie den Wachstumsanstieg der Bäume denn zurück?

Eine wichtige Ursache ist die Veränderung der Landnutzung. Viele Jahrzehnte wurden Nadeln und Laub aus dem Wald herausgeholt und in der Landwirtschaft genutzt. Diese Nutzung ist seit einigen Jahrzehnten weggefallen. Der Nährstoffkreislauf bleibt intakt, dadurch ist die Waldernährung besser. Der zweite bedeutende Faktor ist der Anstieg von Kohlendioxid – nach neueren Untersuchungen kann ein höherer Kohlendioxidgehalt in der Luft das Wachstum der Bäume beschleunigen. Der dritte Faktor ist der Eintrag von Stickstoff. Ein letzter Faktor sind Veränderungen von Temperatur und Niederschlag. Alle Faktoren, die ich genannt habe, sind anthropogen beeinflußt. Das heißt, daß wir nicht mehr auf den Erfahrungen aufbauen können, die wir in den letzten hundert Jahren mit Waldökosystemen gemacht haben, weil sich die Umweltbedingungen geändert haben.

Welche Konsequenzen muß die Forstwirtschaft aus Ihren Ergebnissen ziehen?

In den letzten zweihundert Jahren haben die Förster versucht, produktive Wälder aufzubauen. Kahl liegende Flächen wurden aufgeforstet, ebenso devastierte Bestände, und zwar mit produktiven Baumarten, zum großen Teil mit Nadelbäumen, und zwar oft an Standorten, wo sie vorher nicht vorgekommen sind. Dies hat bis heute seine Auswirkungen. Der Nadelholzanteil ist unnatürlich hoch. Das Volumen an Holz über alle Flächen und Baumarten hinweg hat in Baden-Württemberg in den letzten zwanzig Jahren um mehr als 20 Prozent zugenommen. Wir haben also viel weniger Holz genutzt, als nachwächst. Außerdem hat der Anteil der Bäume über achtzig Jahre um 19 Prozent zugenommen. Wir haben in den letzten Jahrhunderten noch nie so alte Wälder gehabt.

Ist das ein Problem?

Ich glaube, daß es heute Hauptaufgabe der Forstwirtschaft ist, die Wälder umzubauen in Richtung naturnahe, standortgemäße Bestände. Dazu müssen wir aktiv etwas tun. Wir müssen dort, wo wir Bestände haben, die nicht standortgemäß sind, eingreifen, indem wir die dort stehenden Bäume einschlagen und durch Bäume ersetzen, die an den Standort passen. Und die Wälder brauchen mehr Naturverjüngung. Der Laubholzanteil muß wieder zunehmen. Daran arbeitet man derzeit europaweit. Interview: Helga Keßler