„Jetzt ist unser Ruf restlos ruiniert“

In Irakisch-Kurdistan beschießen sich rivalisierende Kurden. In den exilkurdischen Gemeinschaften in Europa, den USA und Australien wächst die Empörung über den zerstörerischen Bruderkrieg  ■ Aus München Helen Feinberg

„Niemand kann uns das antun, was unsere eigenen Politiker uns angetan haben“, sagt Sabri Suleiman. Die Stimme der zierlichen Frau bebt vor Zorn, und ihre Augen blinzeln im Rhythmus der Worte, um so schneller, je wütender sie wird. Sabri Suleiman ist Kurdin aus dem Irak. Vor zwei Wochen ist sie von einem kurzen Verwandtschaftsbesuch aus Kurdistan zurückgekehrt. „Gerade noch rechtzeitig“, sagt sie, „bevor die Katastrophe losging.“

„So schlimm wurden wir von niemandem behandelt“, fährt sie fort. Ihre Wut gilt Massud Barsani und Dschalal Talabani, den beiden Parteichefs der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) und der Patriotischen Union Kurdistans (PUK). „Noch nie hatten wir eine so große Chance – und was haben sie daraus gemacht?“ Kopfschüttelnd beantwortet sie die Frage selbst: „Für Macht und Geld haben sie alles verspielt.“ In den Zorn mischen sich Enttäuschung und Traurigkeit. Eine maßlose Enttäuschung über das Scheitern der kurdischen Selbstverwaltung im Norden Iraks.

Die 30jährige Sozialpädagogin lebte schon im Exil, als sich die irakischen KurdInnen im Frühling 1991 gegen Saddam Hussein erhoben. Doch sie erinnert sich noch gut, wie sie in jenen Tagen bei jeder noch so vagen Nachricht über die Erfolge der kurdischen Peschmerga gebangt hat, ob es ihnen gelingt, das Regime endlich zu schlagen. Für einen Moment breitet sich Freude über das schmale Gesicht. „Wir haben jeden Erfolg gefeiert“, sagt sie, „alle zusammen, egal von welcher Partei einer war.“

Es dauerte jedoch nur wenige Wochen, bis der kurdische Frühling von den Panzern des Regimes überrollt wurde. Über eine Million Menschen flohen in den Iran und die Türkei. Das Lächeln in Sabris Gesicht ist wieder verschwunden. Andere, traurige Erinnerungen kehren zurück.

Sie war gerade zehn Jahre alt, als die Familie aus Kirkuk 1975 in den Iran floh. Ihr Vater war Peschmerga bei der KDP, und der damalige Parteichef, der legendäre Mullah Mustafa Barsani hatte seine Kämpfer aufgerufen, die Waffen niederzulegen. Irans Schah und das irakische Regime hatten ein Abkommen geschlossen: Iran erhielt den Zugang zum Golf zurück, dafür stellte es seine Hilfen für die kurdische Guerilla ein.

Die Familie floh. Nachdem das Regime in Bagdad eine Generalamnestie verkündet hatte, kehrte sie wieder zurück. Aber die Versprechungen wurden nicht eingehalten, statt dessen landete der Vater für ein Jahr im Knast; die Familie floh wieder und kehrte erst in den achtziger Jahren zurück.

„Hundert Jahre haben wir für unsere Freiheit gekämpft“, sagt Sabri. Die Erinnerungen machen wieder der Empörung Platz. „Dann hatten wir sie endlich, wir hatten ein Parlament – es hätte beginnen können.“ Die Münchner Zweizimmerwohnung, in der Sabri mit Mann und Sohn lebt, ist fast zu eng für den Zorn, der in ihr steckt. Es gibt keinen Zweifel für sie, wer die Verantwortung für das Debakel in Kurdistan trägt: Massud Barsani und Dschalal Talabani.

„Sie haben keine Scham“, sagt sie und schüttelt den Kopf. „Sie holen die iranischen Revolutionswächter ins Land, die Türken und jetzt auch noch Saddam.“ An diesem Punkt mischt sich auch ihr Ehemann in das Gespräch, der bis dahin schweigend zugehört hat. „Barsani hat die kurdische Revolution verraten“, wirft er ein. „Er ist ein Stammesfürst, der nur an seine eigenen Leute denkt und dafür unser Volk an Saddam verkauft.“

Doch Sabri mag diesen Einwand nicht gelten lassen. „Jetzt kollaboriert Barsani mit dem Regime und Talabani mit Iran“, sagt sie, „und 1966 war es umgekehrt.“ Im Jahr 1966 hatte sich Talabani auf die Seite des irakischen Regimes gestellt und gegen Mullah Mustafa Barsani, den Vater des heutigen KDP-Chefs Massud Barsani, gekämpft. Vorausgegangen war der Ausschluß Talabanis aus der KDP, nachdem er mit einigen Gesinnungsgenossen versucht hatte, ein neues Zentralkomitee ohne Barsani zu ernennen. Barsani setzte das neue ZK kurzerhand ab und setzte den Ausschluß der „Verräter“ durch.

Bis heute spielt dieses Ereignis eine zentrale Rolle im politischen Diskurs der irakischen Kurden. Der Begriff jaschi 66 (Esel von 1966 – gemeint ist: Kollaborateur von 1966) ist zum geflügelten Wort geworden, und Anhänger der KDP kramen es gern hervor, um Talabanis Rolle in der Widerstandsbewegung zu diffamieren. Allein die Erwähnung der Jahreszahl kann für einen echten Fan Talabanis schon eine Beleidigung sein. Gestandene PUK-Anhänger kontern dagegen mit asch batal, dem Ruf der Müller, wenn ihre Mühle frei ist. Wie ein Müller habe Mullah Mustafa Barsani 1975 das irakische Regime zur Verfolgung der Bevölkerung nach Kurdistan gerufen, in dem er den bewaffneten Kampf aufgab.

„Wo liegt denn der Unterschied, ob einer iranische Revolutionswächter oder Saddam in unser Land holt?“ fragt Sabri ihren Mann. Noch einmal unternimmt dieser einen Versuch, seiner Frau zu widersprechen. Erfolglos. Noch bevor er zu Wort kommen kann, fährt sie mit ihrer Anklage fort: „Diesmal ist es Barsani, der mit Saddam kollaboriert, und das nächste Mal Talabani. Sie unterscheiden sich doch in nichts.“

In einer Ecke stehen noch immer die nur halb ausgepackten Koffer. Daneben stapeln sich allerlei Mitbringsel, darunter auch ein großes Glas Feigenmarmelade. Auf dem Tisch liegt ein Berg Briefe für Freunde und Bekannte von deren Verwandten, Freunden und Bekannten. Dies ist der einzige Postweg, seitdem das irakische Regime im Herbst 1991 die selbstverwaltete Region von sämtlichen Dienstleistungen abgekoppelt hat.

An der Wohnungstür klingelt es, für einen Augenblick ist Sabri von ihrem Zorn abgelenkt. „Niemand kann so gute Feigenmarmelade kochen wie mein Vater“, sagt sie schwärmerisch. „Ach, Kurdistan könnte so ein schönes Land sein, wenn diese beiden Esel es nur zuließen.“

In der Zwischenzeit haben sich etliche BesucherInnen eingefunden. In dem kleinen Wohnzimmer wird es eng, man sitzt da, wo sich Platz bietet – auf dem Sofa, Stühlen oder nach kurdischer Sitte einfach auf der Erde. Sie sind gekommen, um die Familie nach ihrer Rückkehr willkommen zu heißen und um ihre Post abzuholen. Sabri hat frischen Tee gekocht und bietet den Gästen von der köstlichen Feigenmarmelade ihres Vaters an.

Hewal hat bereits seine ersten Briefe gelesen. Jeden Tag hauen allein aus der im Südosten der von Kurden kontrollierten Gebiete gelegenen PUK-Hochburg Sulaymaniya etwa 500 Leute ab, schreibt ihm sein Bruder. Als Hewal das vorliest, ist Sabri mit ihren Gedanken schnurstracks wieder in Kurdistan.

„Siehst du, das ist es, wozu sie es gebracht haben“, wendet sie sich herausfordernd an ihren Mann. „Die Leute hauen ab – und das nicht wegen Saddam.“ Doch diesmal kriegt der Mann aus dem Kreis der Gäste Schützenhilfe.

„Das Embargo ist schuld“, sagt einer der Freunde. „Die UNO behandelt uns genauso wie Saddam. Wenn man das Embargo gegen Kurdistan aufgehoben hätte, ginge es uns besser. Aber so, was soll man denn machen?“ Die Runde kommt auf die allgemeine Verarmung im Land zu sprechen, die nicht zuletzt durch das seit dem irakischen Einmarsch in Kuwait im August 1990 über das Land verhängte UN-Embargo verursacht wird. Jeder steuert eine Geschichte aus der eigenen Familie bei, die illustriert, wie schlecht es den Menschen in Kurdistan ökonomisch geht. Von Onkeln und Tanten ist die Rede, die ihr gesamtes Hab und Gut in Lebensmittel umsetzen, von den Kindern, die mit dem Verkauf von Zigaretten, Plastiktüten oder Sonnenblumenkernen oft den wichtigsten Beitrag zum Familieneinkommen leisten, von Kindern, die zum Betteln statt in die Schule geschickt werden und von dem rapiden Ansteigen der Prostitution in den Großstädten.

„Dabei geht es unseren Familien noch gut“, sagt einer, und in diesem Punkt stimmt ihm Sabri zu. „Immerhin haben sie uns.“ Es gibt keine Zahlen darüber, wieviel Geld die exilkurdischen Gemeinschaften in Europa, den USA und Australien in den letzten Jahren nach Kurdistan geschickt haben. Sicher ist jedoch, daß diese Gelder einen nicht unerheblichen Teil der Nothilfen bilden, die nach Kurdistan fließen. Viele KurdInnen im Exil sparen sich das Brot vom Mund ab oder verschulden sich, um der Familie das Überleben zu sichern.

„Es ist egal, was die UNO tut“, wendet Sabri dann aber doch ein. „Die Hauptschuld trifft unsere eigenen Politiker. Schau dir an, was sie mit dem Geld machen.“ Mit einem Schlag steht ihr der Zorn wieder im Gesicht, mit beiden Händen macht sie eine wegwerfende Bewegung. „Für ihre Kämpfer und neue Waffen haben sie genügend Geld. Aber um Lehrer zu bezahlen, ist angeblich nichts da. Die machen sich doch lustig über uns.“

Noch einmal unternimmt ihr Ehemann einen leisen Versuch, die wütenden Tiraden seiner Frau zu unterbrechen, um das Gespräch auf das Bündnis Barsanis mit Saddam Hussein zu lenken: „Was Barsani jetzt getan hat, stellt alles bisherige in den Schatten.“

Hierin stimmt ihm seine Frau dann doch zu. In diesem Punkt ist sich die versammelte Runde einig. „Jetzt ist unser Ruf restlos ruiniert“, sagt eine der anwesenden Freundinnen. „In Europa wird man sagen: ,Schaut sie euch an, diese Schieber.‘ Wir können doch jetzt niemandem mehr aufrichtig in die Augen sehen.“

Doch ungeschoren mag Sabri die PUK und ihren Chef nicht davonkommen lassen. Wie man es drehe und wende, er sei an dem ganzen Schlamassel genauso schuldig. Zwar habe Barsani das Schlimmste getan und das Regime nach Kurdistan zurückgebracht. Doch wenn Talabani eine andere Politik gemacht hätte, wäre es nicht soweit gekommen. „Die PUK bildet sich immer soviel drauf ein, daß sie fortschrittlicher ist“, sagt sie. „Aber in den letzten Jahren war davon nichts zu spüren.“ Ihr zierlicher Körper bebt. „Von Barsani ist ja nichts anderes zu erwarten“, sagt sie. „Aber Talabani hat sich um die Demokratie genauso wenig geschert. Ihm geht es auch bloß um die eigene Macht.“