piwik no script img

Wohl denen, die im Sarge liegen

■ Musikfest: Das Collegium Vocale Gent mit Philippe Herreweghe spielte Bach-Kantaten und die g-moll-Messe / Unreinheiten im Orchester und in der Sopranstimme

Für jeden, der irgendeinen Bezug zur Kirchenmusik hat, zählt Johann Sebastian Bach wohl zu den vertrautesten und liebsten Komponisten. Wer die großen Oratorien aufführt, kann fast sicher auf eine ausverkaufte Kirche hoffen. Auch die Unser Lieben Frauen Kirche war seit Wochen ausverkauft, obwohl kein großes Oratoriun gegeben wurde.

Chor und Orchester des Collegium Vocale Gent mit ihrem Leiter Philippe Herreweghe gaben im Rahmen des Musikfestes einen Abend mit „kleineren“ geistlichen Werken des Thomaskantors. Herreweghe zählt nach Nicolaus Harnoncourt oder John Eliot Gardiner schon zur zweiten Generation von gefeierten Dirigenten, die sich um die historische Interpretationspraxis Alter Musik verdient gemacht haben. Die Beschränkung der historischen Aufführungspraxis auf ihre technische Seite (Interpretationspraxis, Instrumentenbau) läßt zwar viele Werke in einem neuen Gewand erscheinen, aber auch dieses Gewand greift sich ab, wird zur leeren Hülle, wenn die darin gebetteten Kontexte nicht ebenso akri-bisch aufgearbeitet werden. Wie ein solcher auch auf rein musikalische Weise dargestellt werden kann, das machte Herreweghe an diesem Abend überdeutlich.

Auf fast schockierende Weise zeigte er, wie weit die Musik und das Denken Bachs und seiner Zeit von dem unseren entfernt ist. Auf dem Programm standen zwei Kantaten („Warum betrübst du dich, mein Herz“ BWV 138 und „Selig ist der Mann“ BWV 57), die Motette „Der Geist hilft unser Schwachheit auf“ und die „kleine“ g-moll Messe BWV 235. Sowohl die beiden Kantaten als auch die Motette formulieren eine Jenseitigkeitstheologie, wie sie krasser kaum sein könnte: „Ich wünsche mit den Tod, den Tod“, „Wohl denen, die im Sarge liegen und auf den Schall der Engel hoffen“ usw. heißt es in der Kantate 138. Kaum anders die paulinische Motette, in der der „Blödigkeit des Fleisches“ der „Geist“ entgegengestellt wird.

Ebenso zwiespältig erschien die den Abend beschließende g-moll Messe. Bach erhielt 1736 den Titel des „Hof-Compositeurs“ und sah sich verpflichtet, seinen Dank und seine Untergebenheit mit vier kurzen Messen zum Ausdruck zu bringen. Dies geschah unter großem Zeitdruck, und so bediente er sich Kantatensätzen, denen er den Meßtext unterlegte.

Wer sich in die Affekte und die Figuren barocker Klangrede eingehört hat, der weiß, wie Bach jedem Wort seinen besonderen Ausdruck gibt, und dem kann nicht entgehen, wie oft im Fall der Messe Text und Musik in fast grotesker Weise auseinandergehen. Genannt sei hier nur das Gloria, im Gewand des düster-grandiosen Moll-Eingangschores der Kantate 72. Es erschien wie ein unheimliches Pendant zu den vorausgegangenen Kantaten.

Will man solche Strukturen auf rein musikalischem Wege aufzeigen, bedarf es einer so durchdringenden Interpretation, wie sie Herreweghe eigen ist. Es bekam den ausgewählten Stücken gut, daß Herreweghe kein Exzentriker ist, daß seine Klangstrukturen diszipliniert bleiben, ohne je an Durchsichtigkeit zu verlieren, und daß er die ohnehin starken Affekte nicht noch plakativ zu überziehen versuchte.

Technisch gelang den Musikern jedoch nicht alles in letzter Perfektion, das Orchester hatte mit einigen manchmal etwas störenden Unreinheiten zu kämpfen und der Sopran des Chores wirkte zuweilen etwas herb. Von den Solisten vermochte sich am ehesten der Countertenor Andreas Scholl in den Gesamtduktus des Orchesters einfügen, während der Baß Peter Kooj etwas starr eher einen Kontrast zu diesem darstellte und die Sopranistin Vasiljka Jezovsek mit zuviel Tremolo dem Text nicht unbedingt einen Gefallen tat.

Dennoch, was Herreweghe und sein Ensemble an diesem Abend boten, das erschütterte. War das Publikum zunächst nur zu sehr zaghaftem Beifall fähig, wurde Herreweghe dann nach einer Schreckminute stürmisch gefeiert.

Ulrich Matyl

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen