Gnadenfrist für Nams Vater

Vietnamesische Bagatelltäter werden in der Regel abgeschoben. Für die übrige Familie hat dies oft schlimme Folgen. Petitionen sind meist erfolglos  ■ Von Ute Ehrich

Der vierjährige Nam leidet an einer chronischen Nierenerkrankung. Häufige Aufenthalte im Kinderkrankenhaus Lindenhof, dazwischen immer wieder intensive Pflege muß er über sich ergehen lassen. Erfahrungsgemäß heilt das Nephrotische Syndrom erst in der Pubertät. Unbehandelt endet es meist tödlich.

Doch Nams Pflege ist nicht gesichert. Seine Mutter, einst Vertragsarbeiterin, muß auf dem Wochenmarkt arbeiten. Wenn sie den Lebensunterhalt der Familie nicht durch Arbeit verdient, verliert sie die Aufenthaltsbefugnis für Deutschland und kann nach Vietnam abgeschoben werden. Das bedeutet für Nam den sicheren Tod. Dort ist das Medikament, das er einnehmen muß, nicht käuflich. Nams Großmutter starb in ihrer armen mittelvietnamesischen Provinz auf dem Weg ins Krankenhaus – sie mußte 50 Kilometer in einer Hängematte zu Fuß dorthin getragen werden. Noch wird Nam von seinem Vater gepflegt. Doch der hatte bis 1993 mehrfach unversteuerte Zigaretten verkauft, wurde erwischt und angeklagt. Seitdem ist er ein unbescholtener Bürger, Familienvater und rührender Krankenpfleger. Aber in Berlin gibt es weder Verjährung noch Amnestie für Bagatelldelikte bei vietnamesischen Straftätern. Nams Vater Chin Nguyen Dang hat bereits eine Ausweisung. Wenn juristisch alles ausgereizt ist, versuchen es Betroffene mit Petitionen. Doch auch da berichten die Ausländerberatungsstellen immer wieder von Mißerfolgen. Es gab auch schon Fälle, wo deutsch verheiratete Vietnamesen wegen weit zurückliegender Bagatellstrafen ausgewiesen wurden. „So etwas wäre bei vielen anderen Nationalitäten undenkbar. Aber offensichtlich fährt die Innenverwaltung gegenüber Vietnamesen eine besonders harte Linie“, verrät der Vietnamesenseelsorger Stefan Taeubner.

Seit langem fordern Ausländerinitiativen und Oppositionspolitiker in trauter Eintracht mit der Ausländerbeauftragten Barbara John eine Amnestie für Bagatelldelikte und ein Verzicht auf Zerstörung vietnamesischer Familien durch Abschiebung. Und sie haben auch angesichts leerer Staatskassen gute Argumente. Ausgewiesene leben schließlich auf Kosten der Sozialhilfe, solange Vietnam die Wiedereinreise verzögert. Das dauert oft Jahre. Verheiratete können nach der auf Staatskosten erfolgten Abschiebung im Zuge der Familienzusammenführung wieder einreisen. Das dauert Monate. Schließlich fallen soziale Folgekosten an, wenn den Kindern über Monate die wichtigste Bezugsperson fehlt. Denn oft kümmert sich der Vater, der das Aufenthaltsrecht verloren hat, um die Kinder und hält der Mutter, die noch den Lebensunterhalt verdienen darf, den Rücken frei. Doch bei Innensenator Schönbohm stoßen selbst solche utilitaristischen Argumente auf Granit. Er vertritt die Auffassung, daß mit konsequenter Abschiebung aller vietnamesischen Straftäter – auch wenn die Straftat weit zurückliegt – dem sich von der vietnamesischen Mordserie bedroht fühlenden deutschen Michel Genüge getan wird. Schönbohm erklärte im Juni, die Familieneinheit könne ja auch in Vietnam wiederhergestellt werden, indem die Ehefrau und die Kinder dem abgeschobenen, weil straffällig gewordenen Vater nach Südostasien folgen. Für Nam bedeutete das den sicheren Tod. Aber auch die Abschiebung des Vaters bedroht massiv Nams Leben – er braucht Pflege rund um die Uhr.

Das muß wohl auch dem Innensenat aufgegangen sein. Denn Staatssekretär Kuno Böse lenkte auf der eilends einberufenen Aktuellen Stunde im Ausländerausschuß im August endlich ein: „Wenn das Kind wirklich so schwer krank ist, wie es im Gutachten steht, darf der Vater bleiben, bis es gesund ist!“ Das kann Nam das Leben retten, Nams Vater erhält trotzdem kein dauerhaftes Bleiberecht. In zehn oder zwölf Jahren, wenn der Junge gesund ist, muß er nach Vietnam. Dann hat er rund zwanzig Jahre in Deutschland gelebt.

Dennoch, Nams Vater ist bislang der einzige erfolgreiche vietnamesische Petitant in Berlin. Viele andere Petitionen wurden abgewiesen. Darunter deutsch verheiratete Vietnamesen und alleinerziehende Mütter, deren Kinder hier zur Schule gehen und in Vietnam Analphabeten wären.

Bei der Bleiberechtsregelung von 1993 für ehemalige VertragsarbeiterInnen wurde von alleinstehenden jungen Leuten und nicht von Familien ausgegangen. „Das führt heute zu enormen Konflikten“, meint Seelsorger Taeubner. „Die Verurteilten von 1991–93 haben ihre Bewährungsfrist längst hinter sich.“ Der einzige Ausweg ist der Umzug nach Brandenburg oder Sachsen-Anhalt, wo Bagatellstrafen verjähren. Aber wenn man die Ausweisung bereits in der Tasche hat, nützt das auch nichts mehr.