■ Kommentare Ein EU-weiter Katalog von Mindestleistungen
: Interventionsschlange

Die Litanei ist bekannt: In guten Zeiten müssen wir bescheiden bleiben, weil die Firmen für die Zukunft investieren müssen, in schlechten Zeiten müssen wir die Zähne zusammenbeißen, weil sonst die Betriebe schließen. Dann gibt es noch die Zeiten, wo viele Unternehmen nicht schlecht verdienen, die Arbeiter aber keinen Druck ausüben können, weil es zu viele ohne Beschäftigung gibt. Und schließlich gibt es jene Zeiten, wo es viele Arbeitslose gibt und auch die Firmen nicht viel einnehmen. Derartige Zeiten werden in der Regel dazu genutzt, Gesetze gegen die Arbeiter durchzudrücken, um dann in den zu erwartenden Blütezeiten noch kräftiger als sonst abzusahnen.

Das Problem heute ist weniger leicht in den Griff zu bekomen, jedenfalls von Arbeiterseite. Denn früher konnten die Regierungen umfangreiche Programme zur Ankurbelung der Konjunktur und zur Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit verabschieden. Das ging mitunter zu Lasten der Geldwertstabilität, brachte jedoch für die ärmeren Klassen Entlastung. Dieser Weg ist nun verbaut: Die EU und speziell ihre Normen für den Eintritt in die gemeinsame Währung verhindern kategorisch alles, was in diesen Zeiten vonnöten wäre. Daß der Sozialstaat nun immer mehr abgebaut wird, ist die unvermeidbare Folge.

Dennoch, es gibt Rezepte. Erste Maßnahme wäre eine Modifikation der Brüsseler Intransigenz; man müßte Konjunkturparameter definieren: Sinken die Werte unter einen bestimmten Wert ab, muß es halt den einzelnen Ländern erlaubt sein, die ansonsten verbindlichen Meßlatten zu unterschreiten. Zur „Währungsschlange“ müßte sich also eine „soziale Interventionsschlange“ gesellen. Zweite Maßnahme: ein für alle EU-Länder geltender Katalog sozialer Mindestleistungen, einklagbar durch jeden Bürger. Das müßte von elementaren Normen im Arbeitsrecht über Höchstzeiten bei Arbeitsgerichtsprozessen bis zu Mindestquoten für Sozialhilfe reichen, die allerdings in manchen Ländern erst einzuführen wäre. Alessandro Vernengo

Der Autor ist Arbeiter und Mitglied der italienischen Metallarbeitergewerkschaft.