„Das Vertrauen in die Justiz ist gleich Null“

■ Interview mit Paul Lannoye, Abgeordneter der belgischen Grünen im Europaparlament, über die Häufung von Korruption in Belgien und die Schmerzgrenze seiner Landsleute

taz: Herr Lannoye, am Sonntag wurde der ehemalige sozialistische Minister Alain Van der Biest wegen Mordverdachts festgenommen. Ist das ein Einzelfall oder ein Symptom für ein krankes politisches System?

Paul Lannoye: Es ist sicher mehr als ein Einzelfall. Es gab in letzter Zeit eine Reihe von Skandalen, die nie wirklich aufgeklärt wurden und die darauf hindeuten, daß das politische System und auch die Justiz nicht so funktionieren, wie sie sollten. Das hat sich auch bei der Affäre um die vermißten Kinder gezeigt; auch da haben die Justizbehörden nicht bis zum Ende ermittelt. Was Alain Van der Biest anbelangt, bin ich nicht überzeugt, daß er schuldig ist. Aber ich bin überzeugt, daß in seinem Mitarbeiterstab schlimme Leute waren. Van der Biest hat auf jeden Fall die Kontrolle vernachlässigt.

Sind Politiker in Belgien anfälliger für Korruption als anderswo?

Das glaube ich nicht. Belgische Politiker sind genauso gute oder schlechte Menschen wie in anderen Ländern. Das Problem ist, daß die Sozialistische Partei in Wallonien zu lange an der Macht ist. Wenn eine Partei über einen langen Zeitraum unangefochten regiert, entsteht Filz, vor allem entsteht das Gefühl, daß man sich alles leisten kann. Das betrifft nicht nur die wallonischen Sozialisten, in Flandern sind die Christdemokraten in einer ähnlichen Position. Die hatten vor kurzem ihren Hormonskandal, da wurde auch viel vertuscht.

Vor zwei Jahren, nachdem gerade erst bekanntgeworden war, daß die Sozialistische Partei in Wallonien von der italienischen Rüstungsfirma Agusta Bestechungsgelder angenommen hat, hat die PS bei den Wahlen sogar an Stimmen dazugewonnen. Wieviel Korruption akzeptieren die belgischen Wähler?

Ich denke nicht, daß die Wähler korrupte Politiker bestätigen wollten. Die Sozialistische Partei Walloniens hat es vielmehr geschafft, sich als Opfer einer Kampagne darzustellen, mit der die Partei zerstört werden sollte. Es ist ja nicht die Sozialistische Partei, die an sich korrupt ist. Das kann man so nicht sagen. Einzelne Politiker dieser Partei sind offenkundig korrupt. Deshalb ist die Strategie bei den Wahlen aufgegangen. Die flämischen Sozialisten haben das übrigens genauso gemacht, mit demselben Erfolg. Die haben auch Bestechungsgeld angenommen und bei den Wahlen dazugewonnen.

Der Mord an André Cools liegt fünf Jahre zurück. Warum kommt die Sache erst jetzt heraus, jetzt, wo die belgische Justiz wegen ihrer Fehler bei der Verfolgung des Kinderschänders Dutroux unter Beschuß ist?

Die beiden Affären haben im Grunde nichts gemeinsam, außer vielleicht, daß in beiden Fällen gestohlene Autos eine Rolle spielen und daß die Autos von der selben Schieberbande stammen. Aber es ist natürlich kein Zufall, daß die Justiz gerade jetzt besonders eifrig ist. Nach den vielen Fehlern und Schlampereien bei der Suche nach den vermißten Kindern muß die Justiz beweisen, daß sie ihre Aufgaben erfüllen kann. Das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz ist gleich Null – und das zu Recht. Jetzt bemüht sich die Justiz, dieses Vertrauen zurückzugewinnen.

In Italien gab es vor Jahren die Aktion „Saubere Hände“. Junge Staatsanwälte nahmen respektlos hohe Politiker fest. Steht Belgien vor einem ähnlichen Phänomen?

Nein, die Situation ist doch sehr verschieden. Ich sehe übrigens nicht, daß die Aktion „Saubere Hände“ in Italien so besonders erfolgreich gewesen wäre. In Belgien wird es sicher Reformen im Justizapparat geben. Die schreckliche Affäre um die vermißten, vergewaltigten und ermordeten Kinder hat viele Fehler und offensichtliche Funktionsmängel aufgedeckt. Der Druck der Öffentlichkeit wird dafür sorgen, daß da jetzt etwas passiert. Ich bin sicher, daß unser System in der Lage ist, die in der Vergangenheit gemachten Fehler abzustellen und die Effizienz der Justiz wiederherzustellen.