Durch die Provinz zum Terror

■ „Reisen ins Leben“ zeigt das Weiterleben nach Auschwitz

Langsam schiebt der Scheibenwischer gegen den Regen an. Ein Auto fährt durch die bundesrepublikanische Provinz in all ihrer Tristesse. Aus dem Off kommt die Stimme von Sergeant Mayflower, einem ehemaligen Kameramann der US-Army, der auf der Suche nach seinen Erinnerungen an das Nachkriegsdeutschland durch die Lande kurvt. Auf dieser Basis montiert der Hamburger Dokumentarfilmer Thomas Mitscherlich in Reisen ins Leben – Weiterleben nach einer Kindheit in Auschwitz bisher unveröffentlichte Originalbilder von Konzentrationslagern und alliierten Auffanglagern. Denn unzählige Juden mußten auch nach der Befreiung aus den KZs noch einmal für 2 bis 3 Jahre in sogenannten „Displaced Person Camps“ hausen. Statt auf Schock-Effekte und grausame Bilder zu setzen, zeigt Mitscherlich häufig nur das beengte, alltägliche Leben in den Camps.

Wenn diese Aufnahmen die Lebensbedingungen nach Auschwitz dokumentieren, so geht Mitscherlich mit drei großen Interviews eher den Verästelungen der psychischen Nachwirkungen von Auschwitz nach. Einer der Interviewten, der Kunstprofessor Jehuda Bacon, bringt seine Erfahrungen auf den Punkt und gibt gleichzeitig dem stillen Dokumentarfilm der alten Schule seinen Titel: „Wir sind vom Tod ins Leben gereist, während andere Menschen vom Leben in den Tod reisen.“

Dabei setzt Reisen ins Leben ganz auf die Kraft der Worte, indem die drei langen Monologe von Mitscherlich kaum unterbrochen werden. Ganz in der Tradition der „oral history“ präzisiert er zurückhaltend, hilft bei der Übersetzung mancher Gefühle in Sprache, noch dazu in eine inzwischen fremde Sprache. Neben dem Sozialwissenschaftler Gerhard Durlacher kommt die inzwischen in den USA lehrende Literaturprofessorin Ruth Klüger zu Wort. Klüger, die das Thema in weiter leben – eine Jugend autobiographisch behandelte, nimmt dabei eine kämpferische Position ein. Da sie sich selbst aus dem KZ befreite, zeigt sie keinerlei Dankbarkeit den Befreiern gegenüber. Vielmehr prangert sie viel zulaxe Entnazifizierungsmaßnahmen, restriktive Einwanderungspolitik der westlichen Länder und einen auch nach dem Krieg virulenten Antisemitismus an. Wie vielen Juden wurde ihr so die Reise ins Leben erschwert.

Volker Marquardt

ab Mi, 11. Sept., 21.15 Uhr (ab Do andere Uhrzeiten), Metropolis, in Anwesenheit des Regisseurs