„Die Kinder werden die nächste Waffengeneration entwickeln“

Die UN-Vollversammlung verabschiedet in diesen Tagen den Vertrag über ein Verbot von Atomwaffentests. Schon feilen die offiziellen Atommächte an der Entwicklung neuer Nuklearwaffen — ohne unpopuläre Versuche. Für den Leiter der US-Atomwaffenschmiede Sandia bleibt alles beim alten  ■ Von Andreas Zumach

Bill Clinton kann aufatmen. Ausgerechnet die derzeit in Washington vielgeschmähte UNO beschert dem US-Präsidenten in diesen Tagen ein außenpolitisches Erfolgserlebnis – rechtzeitig zur Endphase des Wahlkampfes gegen seinen republikanischen Herausforderer Bob Dole. Ende dieser, spätestens Anfang nächster Woche wird die Vollversammlung der 185 UNO-Mitgliedsstaaten in New York mit großer Mehrheit einen Vertrag zum umfassenden Verbot von Atomwaffen-Testexplosionen (CTBT) verabschieden. Clinton, der ein solches Verbot im Sommer 1994 zur „außenpolitischen Priorität“ seiner ersten Amtszeit erklärt hatte, wird dieses Ereignis in den nächsten Wochen als historisches Verdienst seiner Regierung feiern.

Die Initiative kam von den Staaten des Südens

Ein historischer Schritt ist der umfassende Bann von Testexplosionen – 33 Jahre nach dem Abkommen zum Verbot überirdischer Versuche von 1963 – zweifellos. Doch erst lange nach den US-Präsidentschaftswahlen am 5. November wird sich zeigen, ob der neue Vertrag jemals in Kraft tritt und eine rüstungskontroll- oder gar abrüstungspolitische Wirkung entwickelt. Denn der Vertrag kann nur in Kraft treten, wenn alle 44 Staaten, die ein Atomprogramm betreiben, den Text unterzeichnen und ratifizieren. Selbst wenn es dazu kommen sollte, kann es sein, daß der Vertrag die Aufteilung der Welt zwischen nuklearen Habenichtsen und den fünf Atomwaffenmächten lediglich zementiert und letzteren obendrein noch die Entwicklung neuer Sprengkopfgenerationen ermöglicht.

Vorausgegangen waren der New Yorker Abstimmung seit Ende Juli intensive und höchst komplizierte Verfahrensdebatten unter den 61 Mitgliedsstaaten der Genfer UNO-Abrüstungskonferenz. Vorrangig ging es dabei um die Frage, ob und wie das Gremium, das durch seine Geschäftsordnung zu Konsensentscheidungen verpflichtet ist, den von Indien bis zuletzt abgelehnten Entwurf für ein Teststoppabkommen der UNO-Generalversammlung dennoch zur Abstimmung vorlegen kann. Die selbst für professionelle Beobachter zeitweise undurchschaubaren Manöver der Diplomaten am Genfer Verhandlungstisch um prozedurale Fragen verdeckten den tiefen Dissens in der Sache, der zwischen den fünf Atommächten und vielen Ländern insbesondere der südlichen Hemisphäre auch nach Abschluß des CTBT weiterhin besteht.

Die Abrüstungskonferenz verhandelte über einen CTBT, seit die Clinton-Administration sich im Juni 1994 hierzu bereit erklärt und zugleich ein Moratorium für US- Testexplosionen verkündet hatte. Rußland, das bereits seit 1990 nicht mehr testet, sowie Großbritannien, Frankreich und China hatten sich dem angeschlossen. Parallel zu den Verhandlungen führten Paris und Peking allerdings bis März beziehungsweise bis Ende Juli dieses Jahres Atomwaffentests durch.

Mit ihrer Bereitschaft zu Teststopp-Verhandlungen waren die fünf Atomwaffenmächte schließlich jahrzehntelangen Forderungen einer seit Mitte der 50er Jahre stetig wachsenden Mehrheit der UNO-Generalversammlung unter Führung Indiens nachgekommen. Zu den entschiedensten Verfechtern eines umfassenden Teststopps und einer Abrüstung aller atomaren Waffenarsenale gehören neben Indien und Mexiko heute Ägypten, Schweden, Australien und Neuseeland.

Von Beginn der Genfer Verhandlungen an verlangte die Gruppe der 21 Staaten des Südens unter den Mitgliedern der Abrüstungskonferenz, daß sich die fünf Atomwaffenmächte im Rahmen eines Teststoppvertrages auch verbindlich zur Abrüstung ihrer Arsenale oder zumindest zu entsprechenden formellen Verhandlungen verpflichten. Neben Indien machten anfangs auch andere Länder ihre Zustimmung zu einem CTBT ausdrücklich von der Erfüllung dieser Forderung abhängig. Andernfalls, so die Regierung in Neu-Delhi, führe ein Teststoppabkommen lediglich zur „Verewigung der nuklearen Apartheid“. Diese Länder beriefen sich darauf, daß die fünf Atommächte im Mai letzten Jahres die Zustimmung einer Mehrheit der 185 UNO-Staaten zur unbegrenzten Verlängerung des Atomwaffensperrvertrages (NPT) aus dem Jahre 1970 mit dem Versprechen konkreter Abrüstungsschritte erkauft hatten.

Indien wird unter Druck gesetzt und isoliert

Doch die Forderung nach verbindlichen Abrüstungsverpflichtungen im Rahmen des CTBT wurde von den fünf Atommächten – mit anfänglicher Ausnahme Chinas – kompromißlos abgelehnt. In der Endphase der Genfer Verhandlungen begab sich auch Peking wieder in die Solidarität des privilegierten Fünfer-Clubs. „Wir hatten keine andere Wahl“, erklärte Chinas Botschafter gegenüber dieser Zeitung. „Bei den internen Beratungen der fünf standen wir immer allein gegen die vier anderen.“

Unter massivem Druck aus Washington, London und Paris weichten immer mehr Länder aus der Gruppe der 21 während der letzten zwölf Monate ihre Forderungen nach verbindlichen Abrüstungsverpflichtungen der fünf Atomwaffenmächte auf, bis Indien schließlich isoliert dastand. In der Endphase der Genfer Verhandlungen seit Beginn dieses Jahres wurde Indien immer stärker unter Druck gesetzt und in die Rolle des Sündenbocks im Falle eines Scheiterns gedrängt – unter anderem durch die bis heute nicht bewiesene Behauptung der Clinton-Regierung vom Januar, Neu-Delhi bereite ein zweiten Atomwaffentest (nach dem von 1974) vor. Dieser äußere Druck wirkte kontraproduktiv. Er stärkte die bis dahin marginalisierte Position in der indischen Politik, die für eine Atombewaffnung des Landes, zumindest aber für die Offenhaltung dieser Option, plädierte. Mit der im Juli von den fünf Atomwaffenmächten durchgesetzten Vertragsformel, wonach der CTBT erst nach einer Unterzeichnung und Ratifizierung durch Indien in Kraft treten kann, war die Chance für ein Einlenken der Regierung in Neu- Delhi endgültig vertan.

Doch unabhängig davon, ob Indiens Position am Genfer Verhandlungstisch die weltweite atomare Abrüstung befördern oder der Offenhaltung eigener Optionen auf Atomwaffen dienen sollte: die in Neu-Delhi und anderen Hauptstädten des Südens geäußerten Bedenken an dem Text des Teststoppvertrages werden auch von den meisten regierungsunabhängigen Organisationen und vielen Wissenschaftlern aus dem Norden geteilt.

Die Atommächte müssen nicht abrüsten

Neben dem Fehlen verbindlicher Abrüstungsverpflichtungen erweckt vor allem die Tatsache Mißtrauen, daß der Vertrag lediglich atomare Testexplosionen verbietet, wie sie seit 1945 über 2.051mal durchgeführt wurden. Forderungen nach einem Verbot auch anderer Versuche innerhalb oder außerhalb von Labors, die zur Entwicklung neuer Sprengkopfgenerationen dienen könnten, hatten vor allem Washington und Paris entschieden abgelehnt. Zugleich betreiben die USA und Frankreich umfangreiche Programme zur Computersimulation atomarer Tests und errichten derzeit mit großem Kostenaufwand riesige Laseranlagen, die ebenfalls für Waffentests genutzt werden sollen. Die USA wollen darüber hinaus noch in diesem Jahr sogenannte „subkritische Tests“ durchführen, bei denen es nicht zu einer nuklearen Kettenreaktion kommt. In Vorbereitung sind außerdem hydronukleare Versuche.

Nach offiziellen Verlautbarungen der Regierungen in Paris und Washington dienen all diese Experimente ausschließlich der „Überprüfung von Sicherheit und Zuverlässigkeit“ bereits existierender Atomwaffen. Das entsprechende Programm der USA, das „Science Based Stockpile Stewardship Programme“ (SBSS), wurde von Clinton im Juni 1995 verkündet, als die Teilnahme der USA an den Genfer Atomteststopp-Verhandlungen innerhalb der Washingtoner Regierung und insbesondere in den Atomwaffenlaboratorien des Landes noch auf Widerstand stieß. Greenpeace, die US-Sektion der „Internationalen Vereinigung der Ärzte gegen den Atomkrieg“ (IPPNW) und andere regierungsunabhängige Organisationen äußerten von Beginn an den Verdacht, daß das „Stewardship Programme“ auch oder gar in erster Linie zur Entwicklung neuer Atomsprengköpfe dienen soll.

Militärs und Politiker sehen neue Bedrohungen

Anfang 1996 aufgetauchte Dokumente aus den Atomwaffenlaboratien haben diese Vermutung inzwischen ebenso erhärtet wie zahlreiche Äußerungen ehemaliger oder noch im Dienst befindlicher Atomwissenschaftler. In den von Mitarbeitern des Atomwaffenlaboratoriums Los Alamos verfaßten Dokumenten, die im Januar auf der Internet-Seite des Pentagon erschienen, wurde ausdrücklich erklärt, daß das „Stewardship Programme“ vorrangig der Entwicklung neuer Atomsprengköpfe dient. Das Pentagon schloß daraufhin seine Internet-Seite und erklärte, die Dokumente stammten aus dem Jahre 1992 und seien überholt. Doch in den Dokumenten kommen Begiffe wie beispielsweise „Stewardship Programme“ vor, die 1992 überhaupt noch nicht existierten. Außerdem wird in den Dokumenten aus dem Pentagon- Haushaltsplan für das Budgetjahr 1995 zitiert. C. Paul Robinson, Direktor des Atomwaffenlaboratoriums von Sandia in New Mexico, erklärte am 13. März dieses Jahres vor dem Senatsunterausschuß für strategische Streitkräfte, daß der CTBT lediglich eine „Unterbrechung“ für die Herstellung neuer Atomwaffen bedeute. „Kinder, die in diesem Jahr in den Kindergarten kommen“, so Robinson wörtlich, „werden die Ingenieure und Wissenschaftler sein, die die nächste Waffengeneration entwickeln“.

Das von kritischen Wissenschaftlern betriebene Washingtoner „Institut für Energie- und Umweltforschung“ (IEER) kommt in einer im Mai 96 veröffentlichten Untersuchung („The Nuclear Safety Smokescreen: Warhead safety and Reliability and the Science Based Stockpile Stewardship Programme“) zu dem Ergebnis, zur Überprüfung von Sicherheit und Zuverlässigkeit der vorhandenen Atomwaffen reichten die bereits bestehenden Einrichtungen der Laboratorien aus. Dennoch würden im Rahmen des „Stewardship Programme“ zahlreiche bislang zur Entwicklung von Sprengköpfen genutzte Anlagen in Betrieb gehalten sowie neue Anlagen errichtet – zum Beispiel für hydrodynamische Tests in Los Alamos, New Mexico. Alle diese Anlagen könnten auch „erheblich beitragen zur Kapazität der USA, neue Waffen zu entwickeln“, heißt es in der Untersuchung des Washingtoner Instituts.

Noch kein Konsens herrscht unter US-Wissenschaftlern bislang darüber, ob neu entwickelte Atomwaffen nicht auch künftig zumindest einmal unter Realbedingungen getestet werden müssen, bevor sie in die Serienproduktion gehen können. Das Pentagon jedenfalls besteht weiterhin darauf. Aus diesem Grund, so die kritische IEER-Untersuchung, werde trotz Abschluß des Teststoppvertrages im Rahmen des „Stewardship Programme“ auch die unterirdische Testanlage in der Nevada-Wüste betriebsbereit gehalten. Bei Bedarf könnten sich die USA unter Berufung auf die in jedem internationalen Abkommen enthaltene Klausel über „übergeordnete nationale Interessen“ jederzeit aus dem Teststoppvertrag zurückziehen – falls dieser überhaupt jemals in Kraft treten sollte.

Mini- und Mikrowaffen sind im Kommen

Bedarf für neue Atomwaffen haben die Militärs und Verteidigungspolitiker unter Verweis auf „neue Bedrohungen“ bereits angemeldet. Im Schatten allgemeiner Abrüstungsbeteuerungen seit dem Ende der globalen Ost-West-Konfrontation ist insbesondere in den USA die Diskussion über eine Veränderung der Atomwaffen- Doktrin von der globalen zur regionalen oder lokalen Abschreckung und eine „Anpassung“ der Waffenarsenale an die „neuen Bedrohungen“ bereits sehr weit fortgeschritten. Wichtigstes Stichwort in diesem Zusammenhang ist die „military counterproliferation“. Gemeint ist die Fähigkeit, andere Staaten von der Beschaffung, Weitergabe oder dem Einsatz atomarer, chemischer und biologischer Massenvernichtungsmittel sowie ballistischer Raketen abzuhalten – und zwar mit der Drohung eines Atomwaffeneinsatzes statt durch Diplomatie und internationale Verträge. In Washington wird dabei an Staaten wie Iran, Irak, Libyen oder Nordkorea gedacht.

Zur Umsetzung einer Doktrin der „military counterproliferation“ werden aus Sicht ihrer Befürworter kleine, sehr gezielt und mit räumlich begrenzter Wirkung einsetzbare „Mini-“ oder „Mikronukes“ benötigt. Damit sollen dann auch im Ausland stationierte US- Truppen zum „Selbstschutz“ ausgerüstet werden. Erste Entwicklungsprogramme für „Mini-“ und „Mikronukes“ hat die Clinton-Regierung bereits in Auftrag gegeben. Aber nicht nur in den USA, auch in Frankreich, Großbritannien und selbst in Rußland gehen das Denken und die Entwicklung in Richtung „military counterproliferation“. Dies weist eine im März 1995 veröffentlichte Studie von Greenpeace International nach.

Vor diesem Hintergrund ist auch unter den zahlreichen regierungsunabhängigen Organisationen, die sich in den letzten Jahren für ein Testverbot engagiert haben, umstritten, ob der jetzt vorliegende Vertrag – falls er denn jemals in Kraft tritt – tatsächlich ein Fortschritt ist oder im besten Fall lediglich den Ist-Zustand der atomaren Apartheid festschreibt. Greenpeace und die „Internationale Vereinigung der Ärzte gegen den Atomkrieg“ argumentierten in der letzten Phase der Genfer Verhandlungen pragmatisch. Sie hoffen, daß von der Verabschiedung des Vertrages durch eine große Mehrheit UNO-Generalversammlung ein derart starker politischer Druck ausgeht, daß auch Indien und andere noch skeptische Staaten das Abkommen nach einer gesichtswahrenden Frist letztlich doch noch unterschreiben. Jenseits aller Notwendigkeit zur atomaren Abrüstung sei es bereits eine erheblicher Fortschritt für die Umwelt, wenn Atomwaffen-Testexplosionen künftig unterbleiben.

Doch stellt sich die Frage, ob für derartige Explosionen überhaupt noch Bedarf besteht, weil die fünf Atomwaffenmächte sie zur Entwicklung neuer Sprengkopfgenerationen nicht mehr benötigen. Und weil andere Staaten sich das erforderliche Know-how, die Bestandteile und Spaltmaterialien für eine atomare Bewaffnung auch auf dem Proliferationswege sowie durch eigene atomare Anlagen beschaffen können und daher nicht mehr auf spektakuläre und international unpopuläre Atomwaffen- Testexplosionen angewiesen sind. Dann würde für den CTBT dasselbe gelten, wie für so manche Rüstungskontrollabkommen der letzten 50 Jahre: er wurde politisch möglich zu einem Zeitpunkt, als er eigentlich nicht mehr nötig war.