Heimflug der Seelen

■ Der „Raum der Klänge“ im Übersee-Museum ist gesetzesfrei. Hier ist alles erlaubt: Alphörner, Bommerlunder und Oden an die Liebe

Darf man das, ist das noch erlaubt? Besoffen vor Lebensfreude ballert der „Eisgekühlte Bommerlunder“ der Toten Hosen durch die erhabene Stille des Übersee-Museums. Gleich darauf, als wäre das natürlich, schreitet die wohlfeile Stimme Fischer-Dieskaus durch den palmhüttengesäumten Lichthof, und mit ihr ein Schubert-Liedchen aus dem Eichendorff-Zyklus „Mondnacht“. Weltschmerz tropft aus zwölf Lautsprechern: „Und meine Seele spannte / weit ihre Flügel auf / flog durch die stillen Lande / als flöge sie nach Haus.“

Romantik hin oder her, zu sehen ist allein ein fliegender Schal. Geworfen von einem Schüler aus der „Nashornklasse“. Die ehemaligen Grolland-SchülerInnen nutzten den Ausflug ins Übersee-Museum, um an der Klangreise, dem neuesten Experiment von Dacapo-Chef Ingo Ahmels teilzunehmen. Möglich wird die Reise durch zwölf Lautsprecher und ein Instrument, das wie ein Miniaturklavier aussieht. Eine ironische Anspielung des Komponisten Hans Otte, der in den 80er Jahren den Bau des außergewöhnlichen Mischpultes in Auftrag gab, um eine Idee zu realisieren, die er gemeinsam mit Ingo Ahmels ausgeheckt hatte: man wollte einen interaktiven „Raum der Klänge“ schaffen.

Nach wenigen Einsätzen hatte das Instrument jahrelang nutzlos auf dem Dachboden gestanden, jetzt wurde es von Ingo Ahmels entstaubt. Das Instrument selbst ist stumm, es produziert keine Töne. Aber mit Hilfe der Klaviatur läßt sich ein durch Band, CD oder Mikrophon eingegebener Klang räumlich bewegen. Jede Taste öffnet einen der zwölf Lautsprecher, die zwischen den zwölf Säulen in der ersten Etage angeordnet sind. Sind alle Tasten gedrückt, dringt der zuvor produzierte Klang gleichzeitig aus allen Kanälen. Er kann jedoch auch zwischen zwei Lautsprechern pendeln oder den ganzen Lichthof des Museums umwandern. Wird etwa ein einfaches Vogelgezwitscher aus dem Synthezizer derart über das Mischpult bewegt, glaubt sich der Zuhörer unwillkürlich mitten in einen Wald versetzt. Der Fluß aus dem Tonband zieht ihm die Beine hoch, weil von allen Seiten Wasser in den Lichthof zu dringen droht. Die in der ersten Etage wandelnden Schritte stellen die Nackenhaare hoch. Ein Dieb, ein Mörder womöglich!

„Wir haben da noch eine Trompete, eine Flöte, ein Gedicht und einen Rasierapparat“, listet ein Lehrer auf, was die Nashornklasse zuvor an Geräuschen gesammelt hat. Natürlich, des Pädagogen Bart muß ab! Die Hände der SchülerInnen fliegen hoch, jeder will das Mikro halten oder das Mischpult bedienen. Alle Kanäle werden aufgezogen und verwandeln die Rasur akustisch in eine gigantische Waldrodung, unterlegt vom Wassergeplätscher und Vogeltirili aus dem Synthezizer.

Ein Knopfdruck, und der Sound von E-Gitarren dröhnt aus allen Rohren. Wie wäre es, wenn dazu ein Alphorn klingt? Armin bläst aus vollen Backen und setzt sich gegen Ingo Ahmels Gitarren durch. Majestätisch schreitet der Klang des Horns durch die Palmhütten. Daneben reine Stille, denn jetzt haben ihn alle, den Bergbauernblues.

Es sind die langen Töne, die sich am besten auf die Reise schicken lassen, erklärte Ingo Ahmels auch den BesucherInnen der ersten Klangreise vor zwei Wochen: ausschließlich Erwachsene, mit deutlich größerer Scheu vor dem Experiment. Ein philosophischer Diskurs über die Universalität des Klanges und die Verpflichtung der Musik zur „Schönheit“ hätte beinahe die Eigenversuche verdrängt. Verkehrslärm, vielfach verstärkt, als akustische Unterfütterung einer gesprochenen Ode an die Liebe? Das roch nach Anarchie, nach purer Lust am Spiel. Der aber fielen schließlich alle anheim. Bereitwillig wurden Tonproben gezückt, Musikinstrumente und Mischpult bedient. Der so verfremdete kunstvolle Gesang einer Dacapo-Mitarbeiterin versetzte zwischenzeitlich regelrecht in angstvolle Stimmung: imitierte Tierstimmen, Schnalz- und Klopfgeräusche bildeten einen mystisch dichten Klangteppich, ein urwaldiges Dickicht, das den Lichthof des Übersee-Museums zu überwuchern schien.

Ingo Ahmels hatte alles unter Kontrolle. Nachdem er die ZuhörerInnen in die Fülle seiner Klangräume entsandt hatte, wußte er die Entrückten auch wieder zu erden: „Ein Klang ist nichts anderes als die Ansammlung von Sinuswellen“, bemerkte er lakonisch. Freilich läßt sich jeder Oberton, selbst jede akustische Täuschung physikalisch erklären, doch was sie im Menschen auslöst, wird damit nicht begriffen. „Unbeschreiblich“, meinte denn auch eine Klangreisende.

Der „Raum der Klänge“ bleibt im Übersee-Museum fest installiert. Möglich, weil die Lautsprecher das Geschenk einer Elektronik-Firma an die vom Senat arg geschröpfte Dacapo-Gemeinde sind. Ingo Ahmels wird also seine Experimente fortsetzen und bietet fortwährend „betreute Klangreisen“ an. Anmeldungen unter der klangvollen Telefonnummer: 500 444.

dah