Israel und die Shoa

■ Tom Segev stellt morgen sein neues Buch „Die Siebte Million“ in Hamburg vor

„Wieviele der im Holocaust umgekommenen Juden hätte der Staat Israel aufnehmen können, wenn er zwei Jahre vor dem Krieg errichtet worden wäre und nicht drei Jahre danach?“ Das ist eine der Fragen, die Tom Segev in seinem Buch Die siebte Million - Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung (Rowohlt) aufwirft, das gerade erschienen ist. Darin untersucht der 1945 in Jerusalem geborene Historiker und Journalist drei miteinander verwobene Themenstränge.

Der erste beschäftigt sich mit der Bedeutung des Holocaust für den Zionismus und den Staat Israel. Die Vernichtung der europäischen Juden habe den jungen Staat seines hoffnungsvollsten Einwandererpotentials beraubt. Ihr Schicksal könne gleichzeitig als Bestätigung und als Widerlegung des Zionismus gedeutet werden: Haben doch die Zionisten seit jeher behauptet, daß Juden nur im gelobten Land leben könnten. Andererseits, so Segev, sei es ihnen nicht gelungen, die Mehrheit der europäischen Juden rechtzeitig von einem Leben in Israel zu überzeugen.

Kenntnisreich und detailliert zeichnet der Autor nach, wie der nach dem Krieg zunächst verdrängte Holocaust mit dem Eichmann-Prozeß in den 60er Jahren zum nationalen Thema wurde, das von da an die israelische Politik bestimmte. Alle wesentlichen politischen Entscheidungen standen im Schatten der Shoa. Er habe dadurch nicht nur den sechs Millionen Opfern eine posthume Identität verliehen, sondern auch die kollektive Identität des neuen Landes geprägt – die der sogenannten siebten Million.

Der zweite Themenkomplex beschäftigt sich mit den schwierigen moralischen Fragen, denen sich die zionistischen Führer angesichts der Verfolgung der Juden in Deutschland stellen mußten. Staatsgründung oder Rettung der Jecken, wie die deutschen Juden genannt wurden? Masseneinwanderung oder Quoten nur für die „brauchbarsten“ Immigranten? Die Realpolitiker um Ben Gurion waren – wie Segev anhand einer Fülle von zum Teil bisher unbekannten Dokumenten zeigt – an „Neuen Menschen“ und nicht an den traumatisierten Opfer der Nationalsozialisten interessiert.

Das dritte Thema setzt sich mit der Haltung der Sabres, der in Israel geborenen Juden, gegenüber den Verfolgten auseinander. Segev beschreibt, wie schwierig nach dem Krieg das Verhältnis zu den Überlebenden des Holocaust war: Niemand wollte von ihren alptraumhaften Erlebnissen hören, stattdessen unterstellte man den Überlebenden, ihre Existenz durch den Tod anderer Juden gesichert zu haben. Während man ihnen Egoismus vorwarf, wurde das Verhalten der Ermordeten als passiv kritisiert: „Wie die Lämmer zur Schlachtbank“ hätten sie sich in die Gaskammern treiben lassen. Wie sich diese Haltung allmählich auflöste, dazu breitet Segev anschauliches Material aus: Historisch genaue Darstellungen wechseln mit journalistischen Berichten über Einzelschicksale, die man fast atemlos verfolgt. Iris Schneider

Lesung: Morgen, 19.30 Uhr, Heine-Buchhdl., Schlüterstr. 1