Ganzkörpergänsehaut

■ Musikhalle: Die Dritte von Brahms, dirigiert von Günter Wand

Es passierte im dritten Satz, „poco allegretto“: Eine weite Ebene tat sich auf, warm, offen. Ganz leise setzten Streicher ein und Bläser, und zwar nicht nur pianissimo, sondern aus einer räumlichen Ferne – eine Erinnerung. Günter Wand baute an räumlichen musikalischen Schichten, und das ohne jedes Pathos. Ganz schlicht dirigierte er die Sinfonie Nr. 3 von Brahms, rhythmisch und sehr schnell.

Im zweiten Satz marschierte er mit taoistischem Gleichmut durch manche zähen Passagen, ohne ein Thema besonders hervorzuheben oder eine Wendung zu betonen. In seiner Interpretation gibt es keinen Grund für ein plötzliches Erscheinen der Bläser in einer Stille, die die Streicher hinterlassen hatten. Was bei anderen Dirigenten leicht zum Steinschlag gerät, wenn man um die Ecke biegt – bei Günther Wand ist es einfach nur Struktur. Doch trotz der Kühle des Dirigats erklang das Orchester mit warmer Farbigkeit, entschwanden die Schallwellen in klaren räumlichen Gebilden. Die Streicher des NDR-Sinfonieorchesters verhielten sich wie ein einziger Klangkörper, eingespielt bis aufs Mark. Es darf ruhig gesagt werden: Bis zur sechsten Ganzkörper-Gänsehaut-Attacke zählte die Autorin noch mit.

Selbst die folgenden Bilder einer Ausstellung in der Orchestrierung von Maurice Ravel – durch ihren Ruhm inzwischen etwas verblaßt – gelangen. Zwar entglitt dem Dirigenten das letzte Bild, indem er die Lautstärke des ohnehin pompösen „Großen Tor von Kiew“ öfter als nötig steigerte. Doch die leisen Passagen boten mehr Spannung als jeder Krimi, ein Schauer kroch übers Parkett und durch die Armlehnen in den Körper, und die Schädel der Pariser Katakomben „leuchteten auf“ in ihrem Echo – genau wie der Komponist es sich vor 121 Jahren gewünscht hatte.

Gabriele Wittmann