Die große Illusion

■ Hilfsbereite Kumpel, unflexible Obrigkeit: Vorschau auf die Filmreihe im Arsenal und Gropius-Bau im Rahmen der Berliner Festwochen "Marianne und Germania"

In seiner Autobiographie vertritt Jean Renoir eine bedenkenswerte These: Seiner Ansicht nach ist die Welt durch horizontale Grenzen unterteilt, schrieb der große französische Regisseur, und nicht etwa durch vertikale Grenzen, die einzelne Nationen voneinander abtrennen. Das gegenseitige Verständnis von Menschen mit gleichen Interessen und Erfahrungen könne niemals ernsthaft durch unterschiedliche Nationalitäten getrübt werden.

Diesem Gedanken huldigt Renoir auch in einem seiner berühmtesten Filme: „La grande Illusion“ (1937) erzählt die Geschichte zweier feindlicher Offiziere (Pierre Fresnay und Erich von Stroheim), deren Wege sich während des Ersten Weltkrieges immer wieder kreuzen. Trotz des Krieges begegnen sie sich jedoch stets mit Respekt und Verständnis. Tatsächlich lebte Renoir seine Philosophie auch im Alltag – einer seiner wichtigsten Mitarbeiter, der Deutsche Carl Koch, hatte im Krieg am gleichen Frontabschnitt noch gegen ihn gekämpft.

Bereits 1931 hatte Georg Wilhelm Pabst ganz ähnliche Überlegungen angestellt: Sein Film „Kameradschaft“ zeigt die dramatischen Umstände eines Grubenunglücks in Frankreich, bei dem deutsche Bergarbeiter ihren französischen Kollegen zu Hilfe eilen. Wieder einmal sind es die Vertreter einer unflexiblen Obrigkeit, die an den herkömmlichen Grenzen festhalten wollen. Die deutschen Kumpel können es hingegen gar nicht verstehen, daß sie am französischen Schlagbaum zurückgewiesen werden sollen. Absurderweise gibt es sogar im Bergwerk unter Tage eine Grenze, die nach Abschluß der Rettungsarbeiten sorgfältig wieder repariert wird.

Heute wächst Europa ja nun angeblich endlich zusammen. Doch meist findet diese Annährung ihren Ausdruck nur in den ewig gleichen Absichtserklärungen von Politikern, die irgendwas von verstärkten Bemühungen im kulturellen Austausch murmeln. Um so erfreulicher ist es, wenn dann gelegentlich die konkreten Ergebnisse solcher Mühen erfahrbar werden. Ergänzend zur Ausstellung „Marianne und Germania“ zeigen die „Freunde der Deutschen Kinemathek“ in der Zeit von September bis Dezember im Kino Arsenal und im Gropius-Bau eine 100 Werke umfassende Filmreihe, die ein wenig Licht auf die Beziehungen zu unserem Nachbarland Frankreich werfen soll.

Wie sich die Filmindustrie Themen aus Geschichte und Literatur des jeweiligen Nachbarn aneignete, verdeutlicht unter anderem der Themenschwerpunkt „Frankreich/Deutschland“. So blickte Ernst Lubitsch beispielsweise durchaus auf den internationalen Markt, als er kurz nach dem Ersten Weltkrieg eine „Madame Dubarry“ als opulenten Ausstattungsfilm mit Emil Jannings und Pola Negri inszenierte. Max Ophüls, der nach seiner Emigration Goethes „Werther“ 1938 als französische Produktion drehte, bekam hingegen die Auswirkungen deutsch- französischer Irritationen zu spüren. Ophüls: „Wir fuhren für Werther zu Außenaufnahmen ins Elsaß. Drüben überm Rhein, im Schwarzwald, in der Siegfriedlinie, spielten die Deutschen Krieg. Von der Maginot-Linie hörte man die Franzosen spielen. Im hohen Ährenfeld traf ich auf den Tonmeister, der sich eine besondere Schutzvorrichtung um sein Mikrophon gebaut hatte. ,Contre le vent et contre l'époque‘, sagte er. So ließen wir uns nicht stören.“

Einen interessanten Vergleich wird man zwischen der deutschen und französischen Version der „Dreigroschenoper“ (1931) von G.W. Pabst nach Brecht anstellen können. Damals waren verschiedensprachige Fassungen eine gängige Praxis, die aufgrund fehlender Synchronisationsmöglichkeiten den Absatz im Ausland ermöglichten. Oft wurden diese Versionen dabei auf die vermeintlich unterschiedlichen Mentalitäten in anderen Ländern abgestimmt.

Weitere Schwerpunkte im September bilden die Filme der Regisseurin Claire Denis sowie Produktionen von, über und mit Antonin Artaud, dessen Geburtstag sich gerade zum 100. Mal jährt. Seine Reputation verdankt der Dichter und Schauspieler vor allem seiner theoretischen Schrift „Das Theater und sein Double“. Weniger bekannt sind seine Auftritte in einigen bedeutenden Filmen der zwanziger und dreißiger Jahre. So kann man sein markantes Gesicht mit den hervortretenden Wangenknochen in „La passion de Jeanne d'Arc“ (1928) entdecken, einer seinerzeit künstlerisch revolutionären Produktion des dänischen Regisseurs Carl Theodor Dreyer. Dreyer komponierte den Film fast nur aus Großaufnahmen expressiver Gesichter; Artaud spielt einen Mönch, der Jeanne auf den Feuertod vorbereitet.

Auch Abel Gance bediente sich der eindrucksvollen Mimik des Schauspielers: In dem experimentellen Monumentalwerk „Napoléon“ verkörpert Artaud den Revolutionär Marat als verbissenen und fanatischen Mann, der sein Leben schließlich unter den Messerstichen der Girondistin Charlotte Corday in der Wanne aushaucht. Neben Drehbucharbeiten von Artaud („La coquille et le clergyman“) werden auch zwei Produktionen gezeigt, die sich mit seinen letzten Lebensjahren im Sanatorium beschäftigen: „En compagnie d'Antonin Artaud“ (1993) entstand nach dem Tagebuch des Dichters Jacques Prevel, der Artaud kurz vor dessen Tod immer wieder aufsuchte und dabei vergeblich hoffte, daß etwas von Artauds Genie auch auf ihn selbst abfärben würde. Der Dokumentarfilm „La véritable histoire d'Artaud le Mômo“ befragt hingegen Freunde und Bekannte des Meisters und zeichnet dabei das Bild eines Mannes, den der jahrelange Aufenthalt in Nervenkliniken zwar zerrüttet, jedoch keineswegs völlig zerstört hatte.

Im Zeichen einer Retrospektive der Filme von Oliver Assayas wird das Oktober-Programm des Arsenal stehen. Dabei gelangt in Ergänzung zum neuen Assayas-Film „Irma Vep“ (mit Hongkong-Star Maggie Cheung) auch eine filmhistorische Rarität zur Aufführung: Am 19.10. laufen fünf Folgen des Serials „Les vampires“ (1915/16) von Louis Feuillade, einer bizarren Abenteuergeschichte, in der die Schauspielerin Musidora als ebenjene Irma Vep im hautengen schwarzen Kostüm als erster Vamp der Filmgeschichte reüssierte. Während die wenig logischen Handlungselemente der phantastischen Geschichten Feuillades in Deutschland meist auf Unverständnis stießen, ließ sich das französische Kino von Georges Franju („Judex“) bis zur Fantomas-Reihe mit Jean Marais immer wieder davon inspirieren. Die spannenden kulturellen Unterschiede sollten wir uns nicht nehmen lassen. Deshalb: Vive la petite différence! Lars Penning