Aufbauhelfer Tourismus

Renate Scheich verlor nach der Wende ihren Job als Auslandsjournalistin. Heute verkauft sie Reisen nach Kuba und anderswo. Manchmal fragt sie sich: „Was verkaufst du eigentlich“  ■ Von Karin Grütter

„Heute bin ich die einzige unseres Kurses, die direkt bei einem Reiseveranstalter tätig ist. Zwei oder drei arbeiten in tourismusnahen Bereichen, viele sind immer noch arbeitslos.“ Renate Scheich, ehemalige Fremdsprachenjournalistin bei Radio Berlin International, dem Auslandssender der DDR, machte im Januar 1991 eine Umschulungsmaßnahme. Heute arbeitet sie für einen kleineren Reiseveranstalter, der auf die Karibik, besonders Kuba, spezialisiert ist. Es war klar, daß sie in ihrem angestammten Beruf nicht würde weiterarbeiten können. „Unser Sender machte ja sogenannte Auslandspropaganda. Von den knapp 200 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen sind vielleicht zehn von der Deutschen Welle übernommen worden. Für mich war klar, daß ich da nicht arbeiten wollte und konnte, es wäre eine Kehrtwendung um 180 Grad gewesen.“ Große Wahlmöglichkeiten blieben der Journalistin nicht: „Die meisten Umschulungsangebote lagen im EDV-Bereich. Da schien mir dieses Angebot im Tourismus am ehesten geeignet, vor allem weil ich meine Fremdsprachenkenntnisse anwenden wollte.“

Also paukte die damals 52jährige ein Jahr lang Betriebswirtschaft und Volkswirtschaftslehre, machte erste Bekanntschaften mit dem Computer, hörte Vorlesungen über die Geschichte des Tourismus, Organisation und Aufbau der Branche, lernte, wie man Reiseprogramme zusammenstellt und vieles mehr. Auf das sehr theoretisch angelegte Ausbildungsjahr folgte ein dreimonatiges Praktikum in einem Berliner Reisebüro. Nach Ablauf der drei Monate war sie vorerst ein Vierteljahr arbeitslos, blieb aber die ganze Zeit über mit einem Fuß im Unternehmen und wurde schließlich beauftragt, dieses an der Internationalen Tourismusbörse Berlin (ITB) zu vertreten. „Von der Standorganisation bis zur Präsentation, es war so etwas wie eine Bewährungsprobe“, erinnert sich Renate Scheich amüsiert.

Anschließend war sie maßgeblich am Aufbau einer Zweigstelle im Ostteil der Stadt, am Alexanderplatz, beteiligt, „und das war dann mein definitiver Einstieg in die Branche“. Zugeschnitten auf das Publikum aus diesem Teil Berlins, das eine spezielle Beziehung zu Kuba hat, wie die Lateinamerika- Spezialistin bemerkt, lief das Geschäft sehr gut. Seit dreieinhalb Jahren ist sie fest angestellt. Daß es ihr gelungen ist, in der Reisebranche dauerhaft Fuß zu fassen, führt die ehemalige Journalistin und Übersetzerin vor allem auf ihre Sprachkenntnisse und Auslandsaufenthalte zurück. Als Absolventin eines Lateinamerikanistik-Studiums hatte sie neben Russisch und Englisch auch Spanisch, Portugiesisch und Französisch gelernt. Während ihrer fast 25jährigen Tätigkeit vorwiegend in der Lateinamerika-Redaktion von Radio Berlin International konnte sie im Rahmen eines Austauschprogramms mit dem kubanischen Rundfunk das Land besuchen.

Ihre jetzige Tätigkeit ist gewiß nicht ihr Traumjob, bedeutet aber Arbeit, regelmäßiges Einkommen und vor allem materielle Unabhängigkeit. „Bis jetzt bin ich noch nicht in soziale Bedrängnis geraten und konnte meinen Lebensstandard halten“, lautet das nüchterne Fazit von Renate Scheich. Ebenso nüchtern, bisweilen auch skeptisch, ist ihre Einschätzung der aktuellen touristischen Entwicklung: „Viele Westdeutsche haben sich in den neuen Bundesländern umgeschaut und festgestellt, daß es hier sehr schöne Feriengebiete gibt. Die möchte man dann gleich vermarkten, wie die Insel Rügen, und vom Massentourismus überrollen lassen. Da habe ich dann so meine Bedenken und frage mich, was verkaufst du eigentlich. Denn das gleiche trifft ja für Kuba zu. Es gibt wirklich wunderschöne Inseln und Regionen, eigentliche Naturparadiese. Und ich weiß genau, wenn ich die vermarkte, dann vernichte ich die Natur. Wenn wir nicht einen entsprechend moderaten Tourismus betreiben, der dem Land zwar einige Einnahmen bringt, die Natur aber bewahrt. Und das ist eben schwer zu vereinbaren mit dieser Tourismusindustrie.“

Vorabdruck aus: Karin Grütter/ Christine Pläss, „Herrliche Aussichten! Frauen im Tourismus“, Rotpunktverlag, Basel, 160 Seiten, 20 DM