Mit Kunst gegen den Frust

Die Regenbogen-Grundschule in Berlin-Neukölln gewinnt den „Sonderpreis Innovative Schulen“ der Bertelsmann-Stiftung
■  Von Constanze von Bullion

„Bißchen breit vielleicht.“ Kichernd linst Derya zu ihrem rechten Fuß. Der steckt bis zum Knöchel in Papier. Klebstreifen für Klebstreifen legt ihre Freundin Adrijana ihr über die Zehen, drückt an der weißen Masse herum, bis sich eine Spitze formt. „Ein Damenschuh wird das“, erklärt die Schülerin, „obwohl ich eigentlich nur Turnschuhe trage.“ Drei Unterrichtsstunden hat die 6. Klasse heute, um sich Phantasieschuhe zu basteln. An der Regenbogen-Grundschule in Berlin- Neukölln wird Kunst ganz groß geschrieben. Ihr Kreativkonzept bekommt jetzt Rückenwind: den „Sonderpreis Innovative Schulen“ der Bertelsmann-Stiftung.

Je 10.000 Mark wurden von den Gütersloher Bildungsfreunden ausgelobt, 333 Schulen haben sich beworben, sieben machten schließlich das Rennen. Sie wurden ausgewählt, weil sie – so die Begründung der Stiftung – „beispielhafte Ansätze zur Lösung gesellschaftlicher Probleme“ gefunden haben und „zu einem veränderten Bildungsverständnis und zu einer veränderten Verantwortungsstruktur im Schulwesen“ beitragen.

Wie die Lehranstalt der Zukunft aussehen soll, weiß allerdings niemand so genau. „Autonome Schule“ heißt das Schlagwort, um das sich die Gelehrten streiten. Eigeninitiative statt Diktat von oben fordern die einen, nach selbstverwalteten Finanzen und praxisbezogenem Lehrstoff rufen die anderen. Dritte fürchten dagegen um gleiche Bildungschancen für alle, wenn der Staat die Pädagogen von der Leine läßt.

Auf der Suche nach der innovativen Schule spricht Bertelsmann- Pädagogin Helga Boldt „weniger von Autonomie als von erweiterter Verantwortung“. Im Klartext: Wo kann sich die Schule an der Lebenssituation der Schüler orientieren? Wie werden Lehrer motiviert? Womit integriert man die Eltern? Wie gewinnt man Schulbehörden für ein Projekt?

„Der Ausgangspunkt unserer Arbeit ist das soziale Umfeld der Regenbogen-Schule“, erklärt die Berliner Preisträgerin Heidrun Böhmer. 484 Grundschüler in sechs Klassen hat die Schulleiterin unter ihren Fittichen, viele von ihnen „mit hochproblematischem Hintergrund“. Das backsteinrote Schulhaus liegt mitten in den Neuköllner Rollbergen. Auf ihren abschüssigen Straßen rollte früher eine Brauerei ihre Bierfässer in die Stadt. Heute erinnert nur noch der süßliche Hopfengeruch in der Luft an die geschäftige Vergangenheit des Arbeiterviertels. Ein seelenloser Sozialbau reiht sich an den anderen, ein öder Kiez in der Einflugschneise des nahen Flughafens.

Wer hier leben muß, hat nur selten eine Erfolgsbiographie vorzuweisen. Mit über 18 Prozent Arbeitslosigkeit liegt das Viertel vor sämtlichen Ostbezirken der Hauptstadt. In etlichen Familien wird der Alltag vom Alkohol diktiert, erzählt die Schulleiterin, viele Ehen sind kaputt, die Kindererziehung bleibt nicht selten auf der Strecke. Daß mehr als die Häfte der Schüler aus nichtdeutschen Elternhäusern kommt, macht die Sache nicht einfacher. „Und die deutschen Kinder“, sagt Heidrun Böhmer, „sind nicht die unproblematische Hälfte.“ Als sie hier antrat, beschloß sie: „Hier müssen wir etwas Besonderes aufbauen, damit die sich nicht totschlagen.“

Fahrradstunden und Basketballkurse gibt es inzwischen, LehrerInnen basteln mit SchülerInnen Puppen, spielen Theater oder lassen sich von Gästen in die Folklore ferner Länder entführen. Alle paar Wochen steht ein Besuch im Museum an, und jeden Nachmittag ist die Kunstwerkstatt offen, wo von Farbeimern über seltsame Glasfläschchen bis zum Hirschgeweih alles zu finden ist, was der Phantasie Beine macht.

In den Gängen sind die Produkte dann zu bewundern: Installationen aus gestapelten Blecheimern und verdrahteten Sektkorken, bunte Stoffriesen und Fotocollagen. Kürzlich haben Schüler das Treppenhaus mit Fäden verzurrt – wer hat da noch Lust, alles kaputtzuklopfen?

Mit Kreativität der Gewalt vorbeugen – vielleicht keine neue Idee. Originell ist an dem Berliner Projekt die Umsetzung. Von 39 Regenbogen-LehrerInnen unterrichten 14 Kunst. Und die würden am liebsten ganz darauf verzichten, Noten zu verteilen. „Weil die Kinder ohne Negativbeurteilung erleben sollen, daß das eigene Werk etwas wert ist“, erklärt Heidrun Böhmer. Um ihre Kinder individuell betreuen zu können, rücken die KunsterzieherInnen zu zweit zum Unterricht an. Manchmal wird die Klasse in Jungs und Mädchengruppen aufgegeteilt und kann mitbestimmen, was passiert.

„Hier wird nicht nur gemalt“, erzählt Kunstlehrerin Coco Zausch. Daß die Teamarbeit den Lehrern „mehr Planung, mehr Absprache und mehr Engagement“ abverlangt, leugnet die 32jährige nicht. Doch Herausforderung bedeutet für sie „totale Unterstützung“. Auch ihre Kollegin Ilse Wahl weiß, wofür sie sich einsetzt: „Durch die Kunst verändert sich die ganze Atmosphäre.“

Ein Wundermittel gegen Frust und Aggression ist all das sicher nicht. So mußte die Schule zugunsten des Kunstprofils die Förderkurse in Deutsch streichen – gerade für die ausländischen SchülerInnen ein schmerzhafter Schnitt. Doch das Kollegium war sich einig: Viele Kinder müssen erst fähig gemacht werden zu lernen, bevor man sie mit Wissen zuschüttet.

„Aber unser größtes Problem“, sagt die Schulleiterin, „sind die Eltern.“ Da gibt es engagierte Väter und Mütter, die sich im Förderverein zusammentun. Doch es gibt auch viele, die mit dem Begriff Schule nur üble Erinnerungen verbinden. Werden sie zur Sprechstunde zitiert, erscheinen sie nur widerwillig. Oft sind dann zähe Überredungsmanöver nötig, um kulturelle oder religiöse Konflikte auszuräumen. Ein Projekt, mit dem auch skeptische Eltern ins Schulleben integriert werden sollen, ist die Balancierstraße für den Hof. Federführend bei der Planung ist ein Vater, der das Holzgerüst zusammen mit Kindern und Eltern entwickelt.

Wer zu solchen Experimenten keine Lust hat, der wird zumindest zur Kasse gebeten. Denn die Kunst kostet. Immerhin 18 zusätzliche Lehrerstunden haben hartnäckige Verhandlungen mit dem Bezirksamt eingebracht. Ein kleines Nebeneinkommen erwirtschaftet sich die Schule mit dem Verkauf von Schülerkunst und Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt. Auch gegen Sponsoren hätte man nichts einzuwenden. Die freilich stehen nicht Schlange. Knapp 25 Mark im Jahr müssen deshalb die SchülerInnen für Material und Ausflüge mitbringen. „Meine Eltern ärgert das“, erzählt eine Schülerin aus der 6. Klasse.

Auf der Schulbank neben ihr sind Derya und Adrijana inzwischen dabei, ihren Papierschuh trockenzufönen. Warum sie hier sind, wissen die beiden genau. Adrijana, Kroato-Berlinerin in der zweiten Generation, wird später Englisch und Deutsch unterrichten. Derya, deren Eltern aus der Türkei kommen, will Mathe studieren. Dann wird sie Astronautin. Und erforscht endlich die Ufos.