Löcher in die Mauern des Arbeitsmarktes!

■ In Berlin rotieren ab Herbst Arbeitslose auf die Jobs von Bildungshungrigen

Erika Paul schmeißt das Büro. Allein. In der Zehn-Menschen- Firma wird jede Hand gebraucht, um die Aufträge zu fertigen. Ersatz für die Büroangestellte gibt es nicht. Dabei würde sie so gerne eine Fortbildung machen. Um endlich die alten Lohnjournale des Handwerksbetriebs durch eine computergestützte Lohnbuchhaltung zu ersetzen. Ohne StellvertreterIn aber gibt's keine Weiterbildung. Erika ist unabkömmlich.

Das EU-Programm „Job-Rotation“ hilft Erika: Sie geht für drei Monate in einen betriebswirtschaftlichen Lehrgang. Während sie Neues über Personalführung, Marketing und EDV im Büro lernt, rotiert ein Stellvertreter auf ihren Job. Hermannn, ein knapp 30jähriger arbeitsloser Versicherungsangestellter, nimmt für ein Vierteljahr Erikas Stelle ein. Strenggenommen ist es sogar ein halbes Jahr, weil die bildungshungrige Erika ihn zwei Monate einarbeitet. Und wenn die fortgebildete Erika zurückkommt, berichtet ihr Hermann, wie die Aktien des Kleinunternehmens stehen. Bezahlt wird er von der EU, dem Arbeitsamt und dem Land Berlin.

Endlich wieder Praxis

Die Verfechter des neuen EU- Programms sehen gleich drei Nutznießer der Job-Rotation, die Berlin als erstes Bundesland testet: Erika darf sich nach der Fortbildung Betriebswirtin des Handwerks nennen. Die Firma kommt betriebswirtschaftlich auf den neuesten Stand, vor allem Kundenorientierung und Personalentwicklung kleiner und mittlerer Unternehmen will die EU durch die „Job-Rotation“ verbessern. Und Hermann hat mal wieder den Schritt in die Praxis getan. Langzeitarbeitslose um die 30 Jahre und BerufsrückkehrerInnen sind die arbeitsmarktpolitische Zielgruppe, berichtet die Koordinatorin des Berliner Stellvertreterprojekts, Bettina Uhrig. „Die bekommen oft keinen Job, weil ihnen praktische Erfahrungen fehlen und die Kontakte.“ Die Rochade in die Stellvertretung sorgt für beides. Hinzu kommt ein politischer Effekt: Der Arbeitsmarkt, von Mauern zischen den starren Zonen Arbeit, Bildung, Arbeitslosigkeit geprägt, soll flexibler werden. Das Überschreiten der Zonengrenzen war bislang so gefährlich für die bürgerliche Existenz wie der Eiserne Vorhang: Wer von Arbeit in Fortbildung wechselte, riskierte den Job. „Wir schlagen Löcher in diese Mauern“, beschreibt Koordinatorin Uhrig, was die Job-Rotation bewirken will. Der Effekt ist meßbar. Würde in Deutschland das Stellvertretermodell so praktiziert wie in Dänemark oder Schweden, könnten 100.000 Menschen jährlich Stellvertreter spielen. Und das Arbeitsamt würde nicht Arbeitslosigkeit finanzieren, sondern Arbeiten und Lernen.

100.000 Stellvertreter

Die Crux der auch in Deutschland bereits existierenden Ansätze von Stellvertretermodellen: Sie sind so restriktiv und verknöchert wie der Arbeitsmarkt selbst. Die Bildungsurlaubsgesetze der Länder werden kaum genutzt, weil die Betriebe ihr Personal ungern freistellen. Wenig besser ist es mit dem Erziehungsurlaub oder den sogenannten Sabbaticals. (Siehe oben stehenden Text.) Die Frage, an der es scheitert, lautet stets: Wer besorgt und, noch wichtiger, bezahlt Ersatz für die pausebedürftigen und bildungshungrigen Beschäftigten?

Über die Dimension des Rotationsprogramms braucht sich aber niemand täuschen. Während in Berlin ein milliardenschwerer Etat besteht, um Arbeitslosigkeit zu bezahlen, hat das Modellprojekt Job- Rotation die vergleichsweise mickrige Dotierung von 3,5 Millionen Mark. Damit soll im Herbst ein funktionierendes Fortbildungs- und Stellvertreterprogramm zum Laufen gebracht werden. So schlägt das Programm allenfalls ein Löchlein in den Gemäuern, durch das Arbeitslose künftig auf Jobs rotieren können. Christian Füller

Kontakt: Sozialpädagogisches Institut, Berlin. Tel. (030) 6908920