Relikt der Frühindustrialisierung

Starre Arbeitszeiten sind in der Wirtschaft Tradition. Doch ihre Flexibilisierung würde den hohen Sozialstandard in Deutschland sichern helfen. Ein Plädoyer
■ von Michael Weidinger und Jan Kutscher

Flexible Arbeitszeiten sind zunächst einmal nicht mehr und nicht weniger als Arbeitszeiten, deren zeitliche Lage und Dauer nicht im voraus festgelegt ist und damit in gewissen Grenzen unabhängig von der vertraglichen Arbeitszeit gestaltet werden kann. Trotzdem oder gerade deshalb ist der Begriff „Flexibilisierung“ aufgeladen mit den unterschiedlichsten Emotionen: Geht es hierbei noch darum, von Gewohnheiten und Zwängen Abschied zu nehmen, die so alt und „vertraut“ sind wie die Industriegesellschaft.

Flexible Arbeitszeiten sagen auch etwas über den jeweils erreichten Sozialstandard, das heißt über das Niveau des gesellschaftlichen Zusammenlebens gemäß allgemein anerkannten sozialen Grundsätzen. Über diesen Zusammenhang sind die Meinungen allerdings geteilt: Mitunter wird beispielsweise argumentiert, Flexibilisierung führe gerade zu einem Abbau dieser Standards, weil sie die Einheitlichkeit bestimmter Verhaltensnormen gefährde, von denen man sich Schutz und Sicherheit erwarte. Wir möchten hier eine entgegengesetzte Auffassung vertreten – und mit drei Argumenten begründen:

1. Flexible Arbeitszeiten bieten eine Möglichkeit, betriebliche Kosten zu senken und produktiver zu arbeiten: Die Arbeitszeit kann sich den Erfordernissen der Arbeitsaufgabe anpassen, Überstunden sowie Leerzeiten werden vermieden und unnötige Arbeiten, mit denen in Betrieben mit starrer Arbeitszeit die zeitlichen Lücken „überbrückt“ werden, können unterbleiben. Gerade der letztgenannte Punkt verdient dabei besondere Aufmerksamkeit: Unternehmen, die ihre Geschäftsprozesse optimieren und Unnötiges weglassen wollen, bekommen zunehmend Probleme mit Arbeitszeitregelungen, die mangels Flexibilität zum Ansammeln von Stundenguthaben motivieren und Kürzerarbeit unattraktiv machen.

Angesichts des zunehmenden Wettbewerbsdrucks sind bundesdeutsche Unternehmen darauf angewiesen, ihre Flexibilitätschancen zu nutzen. Das wird heute von niemandem mehr ernsthaft bestritten. Flexible Arbeitszeiten sind in diesem Zusammenhang nicht nur das wohl wichtigste Instrument, sondern auch eines der sozialverträglichsten: Ohne sie blieben nur Flexibilisierungsalternativen übrig, die statt der Arbeitszeit das Arbeitsverhältnis als solches betreffen – wie beispielsweise Aushilfenbeschäftigung, Leiharbeit oder befristete Arbeitsverhältnisse.

Vor diesem Hintergrund sind flexible Arbeitszeiten Ausdruck eines hohen Sozialstandards: Schon die Tatsache, daß es sie (vermehrt) gibt, zeigt einen gesellschaftlichen Konsens darüber, daß (zunehmende) Marktunsicherheiten nicht unmittelbar auf das Arbeitsverhältnis selbst und die mit ihm verbundene soziale Absicherung durchschlagen sollen.

2. Hierarchie und Flexibilität passen nur schlecht zusammen: Schnelligkeit erfordert kurze Wege und eigenverantwortliches Handeln, nach dem Prinzip der hierarchischen Verhaltenskontrolle aufgebaute Betriebsorganisationen sind hierzu nicht in der Lage. Starre Arbeitszeiten sind, historisch gesehen, vor allem das Ergebnis von Disziplinierungsbemühungen der frühindustriellen Arbeitgeber: Im Vordergrund der Betriebsorganisation stand die Kontrolle des Verhaltens der Beschäftigten (Pünktlichkeit!), nicht etwa die Motivation zur Mitarbeit. Diese Tradition wirkt bis heute fort.

Arbeitszeiten, die tatsächlich flexibel sind, erfordern dagegen einen möglichst herrschaftsfreien Umgang miteinander – oder sie entfalten ihre Produktivitätswirkungen nur eingeschränkt. Auch diese Eigenschaft berechtigt zu der Schlußfolgerung, daß sich ein hoher Sozialstandard in flexiblen und nicht in starren Arbeitszeiten ausdrückt.

3. Bedarfsgerechte flexible Arbeitszeiten können – abgesehen von ihrem betrieblichen Produktivitätsbeitrag, der selbst schon beschäftigungssichernd wirkt – auf verschiedene Weise die Umverteilung von Arbeit fördern:

n Sie erfordern eine Entkopplung von Person und Funktion und tragen damit zum Abbau des „Unentbehrlichkeitsdenkens“ von ArbeitsplatzinhaberInnen bei, das jeder Form von Arbeitsumverteilung massiv im Wege steht und gerade in qualifizierten und Führungspositionen immer noch weit verbreitet ist.

n Sie ersetzen den vermeintlichen Leistungsmaßstab Länge der Arbeitszeit durch ergebnisorientierte Meßgrößen – und werten damit indirekt Kürzerarbeit (sprich: Wenigerverbrauch von Arbeitszeit beim Erreichen definierter Ziele) auf.

n Ein produktivitätsorientierter Umgang mit Arbeitszeit fördert die Ersetzung der Vollnorm durch Arbeitszeit-Bandbreiten, die die Übergänge zwischen Vollzeit- und Teilzeitarbeit fließend machen: So läßt sich die Arbeitszeit besser an die jeweiligen Aufgaben anpassen. Und dieser Anpassungsprozeß kann besser gesteuert werden. Entsprechende betriebliche „Wahlarbeitszeit“-Regelungen, die MitarbeiterInnen eine Vertragsarbeitszeit-Bandbreite „Vollzeit bis Vollzeit minus X“ eröffnen, kommen zugleich diesbezüglichen Wünschen von MitarbeiterInnen entgegen, die in der klassischen Vollzeitorganisation keinen Platz haben.

Flexible Arbeitszeiten sind also nicht nur Ausdruck eines bisher schon hohen Sozialstandards – ihre Verbreitung und Handhabung wird auch mit darüber entscheiden, ob dieser Sozialstandard den wachsenden Anforderungen insbesondere von seiten des Arbeitsmarktes standhalten kann.

Die Autoren sind Arbeitszeitberater in Berlin