Staat wird Standort

■ Sparpaket verabschiedet, Sozialstaat bleibt zurück

Jetzt hat's der Kanzler geschafft. Die Karawane der konservativen Koalition zieht weiter, der sogenannte Standort wird mitgenommen, die Alten und Kranken bleiben zurück. Dafür haben gestern im Bundestag christlich-demokratische und -soziale Volksvertreter votiert.

Die Entscheidung kam nicht unerwartet. Zwar hatten immer wieder einzelne Unionsabgeordnete und zuletzt auch der FDP-Abgeordnete Burkhard Hirsch gemurrt, daß ihr Gewissen mit dem Sparpaket der Koalition arg strapaziert werde. Aber letztlich siegte der Fraktionszwang. Es gehe nicht mehr um die Kürzungen bei den Armen, es geht „um die Vertrauensfrage für die Regierung“, meinte Volksvertreter Hirsch in der Debatte. Die Kanzlermehrheit, sie stand.

Es nützt den krank werdenden Arbeitnehmern zwar zunächst nichts – aber die Opposition hat sich gestern und in den letzten Wochen der Spardebatte erstaunlich gut geschlagen. Obwohl die Interessen der Kranken und Arbeitslosen in dieser Republik schwer zu organisieren sind, haben sich die Oppositionsparteien diese Interessen hier zu eigen gemacht. Bei der Nagelprobe Sparhaushalt zeigt sich, sozialdemokratisch, sozialökologisch und demokratisch-sozialistisch ist allemal sozialer als christsozial. Und Herz-Jesu-Sozialisten gehören allenfalls vom Stockmaß her zu den oft beschworenen kleinen Leuten. Selbst Schwangeren, die krank werden, wollen sie ein Fünftel der Lohnfortzahlung wegnehmen.

Die entscheidende Frage wird allerdings erst in den kommenden Monaten beantwortet. Läßt sich die neue, die eindeutige Parteinahme der Opposition in gesellschaftliche Parteinahme umsetzen? Begibt sich die parlamentarische Opposition auf die Suche nach der gesellschaftlichen Mehrheit? Muß der Umverteilungskanzler künftig damit rechnen, nicht mehr als großer deutscher Staatsmann die Hände von Rentnerinnen schütteln zu dürfen?

Der Bundesverband der Deutschen Industrie hat die große Debatte um das Sparen bei den Schwächsten mit der ihm eigenen Sensibilität gestern orchestriert. Eine Flugbenzinsteuer, die auch reisende Manager träfe, sei reine „Beutelschneiderei“, teilte die Spitzenvereinigung der deutschen Industrie der Presse mit. So unterschiedlich sind die Probleme. Hermann-Josef Tenhagen