Erstaunlich vollendeter Torso

■ Mozarts frühe Oper „Zaide“ beim Musikfest mit der Deutschen Kammerphilharmonie / Wie von Mozart zu Ende geschieben

Im Dezember 1799 erschien in der Leipziger Allgemeinen Musikalischen Zeitung eine Anzeige: „Unter Mozarts hinterlassenen Werken findet sich ein Singspiel, wahrscheinlich 1778 oder 1779 geschrieben, worin folgende Personen vorkommen: Gomaz, Zaide, Sultan, Zaram, Soliman, Osmin. Sollte jemand den Titel dieses Singspiels kennen, oder falls es gedruckt ist, wissen, wo es herausgekommen ist, so wird er verbindlichst ersucht, es den Verlegern dieser Zeitung anzuzeigen“. Bis heute gibt es keine Aufklärung über Wolfgang Amadeus Mozarts von Konstanze Mozart im Nachlaß gefundene Singspiel „Zaide“. Das Fragment gebliebene Werk bietet einen Strauß großartiger Arien, Ensembles und zwei fulimante Melodramen, die Mozart „Melologe“ nennt. Es fehlen die Ouvertüre, die Zwischentexte und ein dritter Akt.

Was soll man damit machen, wenn man darüberhinaus wohl erkennen muß, daß es mit der textlichen Vorlage wahrscheinlich ohnehin schlecht bestellt gewesen sein muß. Denn vollendet wurde Zaide eben nicht, wohl auch deshalb, weil Mozart mit dem besseren Libretto zur „Entführung aus dem Serail“ drei Jahre später denselben Stoff vertonte. Der Regisseur Phillipe Arlaud und der Dramaturg Derek Weber erfanden für die Bremer Aufführung eine Rahmenhandlung. Eine Person, die zunächst im Publikum sitzt und „Anfangen!“ einklagt, setzt sich neben die Bühne und kommentiert den Ablauf. Das glückt nicht unbedingt, weil seine Position als Kommentator, Mitmacher, naiver Hörer und am Ende auch Animator des dramatischen Ablaufs ständig wechselt. Gleichzeitig macht dieser Versuch des Theaters auf dem Theater den Mangel an dramatischer Entwicklung insofern regelrecht plausibel, als damit nur bestimmte Gefühle und Konstellationen sozusagen vorgeführt und auch abgebrochen werden, denn lobenswerter Weise wurden hier nicht die Versuche des 19. Jahrhunderts, das Stück fertigzustellen, benutzt.

Das Vorführen einer grandiosen Musik: Anders geht es auch gar nicht. Und so blieb die Inszenierung von Arlaud mit wunderschönen Kostümen und geometrischen sich verschiebenden Wandformen nahe an der konzertanten Aufführung. Arlaud setzte keinerlei Interpretation auf und wurde nur da präsenter und entschiedener, wo die Musik dieses vorgab: In den beiden großen Melodramen. Der hysterische Anfall des Potentaten Soliman ist schon von der Musik her parodistisch zu verstehen. Bei aller textlichen Unbeholfenheit des Gesamttorsos ist in den Arien frappierend zu hören, wie hier eine vollkommen neue Konzeption von Musiktheater ihren Anfang nimmt: Die Motive, Rhythmen, Melodien und vor allen die durch immer wieder überraschende Bläserfarben differenzierten Instrumentationen werden Abbild der komplexen Lebenswirklichkeit des Personen.

Und aus dieser Charakterisierung des Dramas allein mit musikalischen Mitteln lebt diese beispielhafte Aufführung der Deutschen Kammerphilharmonie unter der Leitung von Thomas Hengelbrock. Der Dirigent spielt den lyrischen Grundton des Werkes mit unendlicher Expression in seiner ganzen Tiefe aus. Beste Unterstützung hat er durch die SängerInnen: Allen voran Leonore von Falkenhausen als Sklavin Zaide, die ihre drei grundverschiedenen Arien mit dem komponierten Wutanfall gegen Soliman krönt und so eine ungemein ausgeprägte Frauengestalt allein über die Musik präsentiert. Der ob des Fluchtversuches seiner Sklaven völlig durchgeknallte Soliman darf sich durch den Tenor Hermann Oswald auch stimmlich austoben, der Bariton Bernhard Spingler warnt mit seiner großen Arie „Ihr Mächtigen!“ den Sultan. Drew Abbott als Gomatz setzt allen Glanz des lyrischen Tenors ein, und die Sängerriege wird ergänzt durch die einzige Buffofigur der Oper: Janusz Monarcha als Osmin. Lang anhaltender Beifall für diese Ehrenrettung eines erstaunlich vollendeten Torsos.

Ute Schalz-Laurenze