Gosse des American Dream

■ Schon Gottfried Benn wollte über den Weizenkornsucher Carleton ein Libretto verfassen - jetzt wurde Thomas Hürlimanns neue Fassung in Zürich uraufgeführt

„Das ist Marc Alfred Carleton, Sonderling, nebenbei verheiratet, vier Kinder, zweitausend Dollar im Jahr Gehalt, also ein armer Schlucker, ein kleiner Beamter, unbeträchtlicher Exponent der Washingtoner Herren“, schrieb Gottfried Benn in den zwanziger Jahren. Dennoch interessierte er sich für den Agronom, der 1866 im mittleren Westen Amerikas geboren wurde. Denn Carleton, der quer durch Rußland reiste, um ein besonders widerstandsfähiges Weizenkorn zu finden, das sein Land vom Hunger erlösen sollte, steht für den amerikanischen Traum des Anything goes, ist gleichzeitig aber eine tragikomische Figur.

Grund genug für den Nihilisten Benn, aus der Geschichte des Beamten mit Weltrettungsattitüde ein Libretto für eine Hindemith- Oper zu basteln. Das Werk blieb unvollendet, und zur Ironie der Geschichte gehört auch, daß sich der Fortschrittsskeptiker Benn 1933 euphorisch für Hitler und eine vermeintlich bessere deutsche Zukunft engagierte. Schon ein Jahr später bedauerte er den „großen Irrtum“, zwischen 1945 und 1948 hatte er Publikationsverbot.

Das alles ist die Grundlage von Thomas Hürlimanns neuem Theaterstück „Carleton“, das am Samstag im Züricher Theater Neumarkt uraufgeführt wurde und tags darauf auch in Hannover Premiere hatte. Anders als noch 1990, als es in „Der letzte Gast“ um den Schauspieler Oskar Werner ging, hat der 45jährige Schweizer Autor diesmal kein stimmiges, an Tschechow erinnerndes Theatertableau entworfen. Statt dessen holt Hürlimann zum historischen Panorama aus. Beim Lesen meint man, in einer Geschichtsstunde inklusive biographischer Benn-Kurzlektion gelandet zu sein. Ob die Geschichte Carletons, der das Wunderkorn im vorrevolutionären Rußland tatsächlich fand und damit der kränkelnden amerikanischen Landwirtschaft auf die Beine half, so aufbereitet fürs Theater taugt, ist die große Frage.

Im Züricher Theater Neumarkt betritt man einen quergelegten Spielraum, der förmlich zum revueartigen Parforceritt einlädt. Die Zuschauer sitzen in langen Reihen, Regisseur und Neumarktintendant Volker Hesse folgt dem Autor und läßt von der Bühne herunter bis zum anderen Ende des Raums die gesamte Personnage des ersten Jahrhundertdrittels aufmarschieren: Jüdisch-russische Emigranten, amerikanische Kapitalisten, bolschewistische Revolutionäre, Mafiabosse, und, direkt aus der Commedia dell'arte, den Truffaldino, damit Carleton einen Gefährten auf seinem Weg in die Gosse des American Dream habe.

Hesse hat sich nicht lumpen lassen und zitiert alles: Stummfilm- Slapstick, Vaudeville, Mysterienspielereien und Tragödientöne. Immer wieder blitzt auf, warum sich das kleine Theater in Zürichs Zentrum in den letzten beiden Spielzeiten einen Ruf als experimentierfreudige und schauspielerisch hochklassige Bühne erworben hat. Aber letztlich wird alles mit Theaterkrach zugedeckt, das Zentrum des Stückes bleibt leer: Dr. Gottfried Benn, der sich in seiner Berliner Praxis für Haut- und Geschlechtskrankheiten ein Libretto zusammenträumt – E. Heinrich Krause gibt ihm lediglich eine aufgesetzte preußische Steifheit. Er fällt vehement gegenüber Hanspeter Müller ab, der aus Carleton ein von der Idee besessenes Wesen macht, das in chaplinesk-komischer Traurigkeit nach jedem Genickschlag wieder aufsteht.

Carleton hat zwar den Grundstein für Amerikas Weizenüberschüsse gelegt, zerbricht aber letztlich an den kapitalistischen Mechanismen. In den kalten russischen Steppen läßt er Finger und Zehen, in Amerikas Kornmetropole, Kansas City, sein letztes Hemd. Auf der Strecke bleiben auch seine Frau und die an Kinderlähmung erkrankte Tochter. Die junge Julika Jenkins ist das behinderte Mädchen, das einzelne Wörter nachahmt und am liebsten aus dieser Welt fliehen würde, und sie ist das genauso beeindruckend wie sie die große Dame Hindemith gibt, die ihren Dr. Benn mit kurzen Nachrichten von berauschenden Fackelzügen und vom tonsetzenden Ehemann beglückt.

Die Carleton-Geschichte wird dem Dichterdoktor übrigens von Jule Leibowitz serviert, einer nach Amerika emigrierten jüdischen Geliebten Benns, die es wieder zurück nach Nazideutschland und in seine Arme treibt. In Benns Kopf nimmt die Geschichte poetische Gestalt an, was Hürlimann aber zu einem Historienschinken auswuchern läßt, den Volker Hesse letztlich nicht in den Griff bekommt. Die Neumarktbühne gerät aus den Fugen, und irgendwo zwischen Berlin, Kansas City und Charkow bleibt eines auf der Strecke: das Theater. Jürgen Berger

Thomas Hürlimann: „Carleton“. Regie: Volker Hesse. Raum: Marietta Eggmann. Mit Hanspeter Müller, E. Heinrich Krause, Isabella Menke, Julika Jenkins. Theater Neumarkt Zürich. Weitere Vorstellungen: 17. bis 19. 9. und 17. bis 19. 10.