Großer Wirbel in Japans Parteienlandschaft

■ Die überraschende Gründung einer neuen Partei zwingt Premier Hashimoto zu Neuwahlen im Oktober. Der Ausgang dieses Urnengangs gilt als völlig ungewiß

Tokio (taz) – Voller Neid blicken Japans WählerInnen dieser Tage nach Amerika. Dort gibt es seit Monaten zwei Hauptkandidaten für das höchste Amt im Staat und damit eine klare Wahlmöglichkeit. Nichts dergleichen gilt in Japan. Niemand weiß, wer gegen Premierminister Ryutaro Hashimoto ins Rennen um das höchste Regierungsamt geht, geschweige denn welche Parteienkoalition in wenigen Wochen die Macht in Tokio übernimmt. Dabei sollen die Japaner und Japanerinnen noch vor den Wahlen in Amerika ihre neue Regierung wählen.

Die Verwirrung ist komplett, seit Premier Ryutaro Hashimoto, Chef der Liberaldemokratischen Partei (LDP), am Wochenende Neuwahlen ankündigte, die er nach der japanischen Verfassung praktisch im Alleingang ausrufen kann. Der Grund für den überraschenden Entscheid: Hashimotos Koalitionspartner, die Sozialdemokraten und die Sakigake-Partei („Pioniere“), wollen neue Wege gehen. Zu diesem Zweck riefen die derzeitigen Galionsfiguren des linksliberalen Establishments, Gesundheitsminister Naoto Kan und der bisherige Generalsekretär der Pioniere, Yukio Hatoyama, vergangene Woche die Bildung der „Demokratischen Partei“ aus. Am heutigen Dienstag tritt das Vorbereitungskomitee der neuen Partei zusammen, nächste Woche soll die Parteigründung folgen, an der die meisten bisherigen Abgeordneten von Sozialdemokraten und Pionieren teilnehmen wollen. Das wirklich Neue an der Entwicklung: Im Gegensatz zu den bisherigen Parteiführern von Sozialdemokraten und Pionieren fühlen sich die Initiatoren der neuen Partei nicht an die Koalition mit den Liberaldemokraten gebunden. Ein Regierungswechsel in Tokio ist damit zumindest theoretisch wieder denkbar geworden.

Hashimoto hat diese Entwicklung freilich rechtzeitig kommen sehen. Die für den 20. Oktober anvisierten Neuwahlen sollen die Wähler zur Urne bitten, noch bevor sich eine handfeste Regierungsalternative am Parteienhorizont abzeichnet. Der Moment ist für die Liberaldemokraten günstig gewählt: Japans Wirtschaft befindet sich seit Jahren erstmals wieder im Aufwind, und Hashimoto gilt als populärer Spitzenkandidat. Ihm kommt zur Hilfe, daß sich der wichtigste Oppositionsgegner, die liberal-konservative Neue Fortschrittspartei (NFP), in der Krise befindet.

Oppositionspartei verliert ihren Spitzenkandidaten

Der NFP-Vorsitzende Ichiro Ozawa, noch zu Jahresbeginn als großer Herausforderer Hashimotos gefeiert, hat aufgrund eines kläglich gescheiterten Parlamentsboykotts im Frühjahr in Öffentlichkeit und Partei an Autorität eingebüßt. Gleichwohl war es eine Überraschung, als Ozawa vor wenigen Tagen erklärte, daß er nicht mehr für das Amt des Regierungschefs kandidieren werde. So steht die größte Oppositionspartei ohne Spitzenkandidat da.

Ozawas Rückzug soll indessen den letzten verbliebenen Weg der Opposition zur Macht freiräumen: eine Koalition zwischen NFP und den Abgeordneten der noch zu gründenden Demokratischen Partei. Gemeinsam verfügen beide Gruppen heute über eine Mehrheit im Parlament, die sie unter günstigen Umständen bei den Wahlen bewahren können. Aus diesem Grund bieten NFP-Politiker den Führern der Demokratischen Partei heute das Amt des Regierungschefs an – mit dem gleichen Köder hatten die Liberaldemokraten vor zwei Jahren die Sozialdemokraten zum Seitenwechsel bewogen. Fest steht jedoch nur, daß die neue Demokratische Partei ohne Koalitionsaussage in die Wahlen gehen wird.

Vielen JapanerInnen ist unklar, wie sich die Parteien, die sich alle als liberal und reformorientiert ausgeben, voneinander unterscheiden. In Umfragen geben 50 Prozent der Befragten an, daß sie keiner Partei nahestehen. Die Vorhersage des Wahlausgangs bleibt deshalb voller Tücken, auch wenn alles andere als ein Wahlsieg der LDP großes Staunen auslösen würde. Dennoch: „Weder die LDP noch die NFP verfügen über sichere Aussichten, eine absolute Mehrheit zu gewinnen. Mehrere Regierungskombinationen bleiben denkbar“, schreibt immerhin auch die LDP-nahe Tageszeitung Yomiuri.

Wie unberechenbar Japans Wähler und Wählerinnen heute sind, zeigt ein Blick auf die jüngsten Wahlergebnisse: Bei zwei Bezirkswahlen in Tokio gewannen die Kommunisten. Bei den Bürgermeisterwahlen der Großstädte im Frühjahr 1994 siegten gar Komödianten vor seriösen LDP-Kandidaten. Die letzten nationalen Parlamentswahlen zum Oberhaus im Sommer 1995 gewann die NFP.

Für die jetzt anstehenden Wahlen des Unterhauses, die über die Regierungsbildung entscheiden, sind Vorhersagen noch schwieriger, weil unter einem völlig neuen Wahlsystem abgestimmt wird. Erstmals werden zwei Stimmen abgegeben: Die erste bekommt ein Wahlkreiskandidat. Sie wird nach dem Mehrheitswahlrecht ausgezählt. Die zweite gilt einer Partei. Sie wird landesweit nach dem Verhältniswahlrecht ausgezählt. Insgesamt werden 300 Abgeordnete über Wahlkreise und 200 über Parteilisten bestimmt. Keiner weiß, ob das neue System die großen Parteien begünstigt oder den kleinen Parteien die Funktion des „Züngleins an der Waage“ sichert. Georg Blume