Satisfaktion für den Zauberer

■ Dacapo präsentiert in seiner Reihe „piano adventures“ im Übersee-Museum einen großartigen Künstler: Charles Koechlin

Kurios erscheint eine Ausstellung, die heute im Überseemuseum eröffnet wird. Dabei handelt es sich um eine Photographie-Sammlung, die nicht von einem Fotographen, sondern von einem Komponisten des frühen 20. Jahrhunderts stammt: Charles Koechlin. Etwa der, der das Dschungelbuch vertonte? Genau der.

Der 1867 in Bombay geborene Charles Koechlin, Sproß einer elsässischen Industriellenfamilie, war ein Kipling-Fan der ersten Stunde. Die Gedanken-, Bilder- und Klangwelt des Dschungelbuchs zieht sich wie eine Leitspur durch sein gesamtes künstlerisches Schaffen. Alles andere als gerade war hingegen sein Weg zum Musiker selbst: Der Vater plante ihn als zukünftigen Offizier ein, doch der junge Charles wollte Astronom werden. Ihn faszinierte das Spannungsfeld zwischen Vision und Wissenschaft. Dann aber streckte ihn die Tuberkulose nieder, und das mathematische Talent entschied sich nach langer Rekonvaleszenz für die „Kunstform zwischen technik und Phantasie“, für die Musik.

Er studierte bei angesehenen Lehrern wie Massenet und Faure. Seine Werke aber blieben nahezu unbekannt. Ähnlich wie ein halbes Jahrhundert zuvor bei Berlioz, pries man seine Schriften, ignorierte aber die Kompositionen. Ursache: Koechlin, der sich 1915 für die Vorstellung von Schönbergs Musik in Paris einsetzte, galt als Moderner. Selbst in Stil und Ausdruck an Debussy angelehnt, wendete er sich stets gegen jedwede Dogmatik. Doch niemals reklamierte er für sich einen allgemein verbindlichen „wahren“ Stil.

So zeichnet ein hohes Maß an Eigenwilligkeit sein gesamtes, etwa 250 Werke umfassendes Oeuvre aus, in deren Mittelpunkt die Kompositionen nach Kiplings Erzählungen stehen. Koechlin schrieb sie in mehreren Etappen. Den ersten Stücken, bereits 1899 komponiert, folgten in den Jahren 1925-1927 der „Frühlingslauf“ und das „Gesetz des Dschungels“. Dieses vertont den Tanz der Affen, der Bandar-log, die das Menschenkind Mowgli entführen, bevor es von Panther, Bär und Schlange wieder befreit wird. Nicht nur musikalisch feilt Koechlin die Romanvorlage zu beißender Satire um: „Die Affen halten sich für begnadete Genies und sind doch nichts weiter als plumpe Nachäffer, deren einziges Ziel es ist, der Tagesmode zu folgen ... so etwas soll auch in der Welt der Künstler vorkommen.“

Wer indes meint, Koechlin sei der Komponist von „Versuch's mal mit Gemütlichkeit“, der irrt gewaltig. Koechlins Kompositionen haben nichts mit der Walt-Disney-Fassung zu tun, obwohl letztere sicherlich bekannter ist. Noch zu Beginn der 80er Jahre war es äußerst schwierig, überhaupt Notenmaterial des verkannten Genies zu erhalten, viele seiner Werke waren vergriffen oder noch unveröffentlicht. Erst heute beginnt man, Koechlin wiederzuentdecken – eine späte Satisfaktion für den Künstler.

Daß die BremerInnen Koechlin nun hören dürfen, ist der Sammlung von Otfried Nies zu verdanken. Dem Musiker und Gründer des Kasseler „Archiv Charles Koechlin“ gelang es, das Gesamtwerk des Künstlers einschließlich der musiktheoretischen Arbeiten (Manuskripte, Skizzen, Tagebücher, Briefwechsel, Aufsätze für Musikzeitschriften und Fotos) und anderer Dokumente zusammenzutragen.

Dazu gehören allein 3.000 Fotografien, die Koechlin, ganz nebenbei auch ein hervorragender Fotograf, vornehmlich in der Zeit zwischen 1890 und 1939 aufnahm, als er mehrere Reisen unternahm. Diese Fotos dokumentieren die Faszination des Künstlers für die „Gegensätze“ Hell und Dunkel, Sonne und Mond, Tag und Nacht, für das Spiel mit dem Licht. Sechzig dieser Bilder sind ab heute im Übersee-Museum zu sehen, daneben kurze Texte, Notenmaterial und Original-Manuskripte jenes Künstlers, der Debussy, Ravel und Satie zu seinen persönlichen Freunden zählte.

Ein besonderes Erlebnis verspricht am 29.9. die Bremer Erstaufführung des Klavier-Zyklus „Les Heures Persanes“ durch Herbert Henck im Museum zu werden. Wer Hintergründiges über den Komponisten erfahren will, sollte zuvor den Einführungsvortrag von Otfried Nies am 19. September (20 Uhr im Übersee) besuchen. Und dabei vielleicht der Worte gedenken, die Darius Milhaud 1915 über Koechelin schrieb: „Angesichts Ihrer Kompositionen habe ich den Eindruck, es mit der Musik eines Zauberers zu tun zu haben, der der Generation nach mir selbst angehören könnte“. wie/dah