„Erst wenn die Füße ab sind, ist Schluß“

Für drei Mark die Stunde müssen Berliner Arbeitslose zur „gemeinnützigen zusätzlichen Arbeit“ antreten – und manche können auf das Geld nicht verzichten  ■ Von Constanze von Bullion

Wir wollen uns nicht beklagen.“ Sie bückt sich und tunkt den Lappen in die lauwarme Brühe. Wringt ihn aus, richtet sich vorsichtig wieder auf und fährt mit einem großen Schwung über die angestaubte Glasvitrine. „Aber zum Leben ist das nichts und zum Sterben auch nicht für uns beide.“ Die beiden, das sind Brigitte Lorenz und Marion Günther. Die bebrillten Damen mit den Blümchenkitteln putzen Ausstellungskästen zwischen rußgeschwärzten Dampflokomotiven. Seit über drei Jahren arbeiten sie im Museum für Verkehr und Technik in Berlin- Kreuzberg. Für drei Mark die Stunde.

Gemeinnützige zusätzliche Arbeit, kurz GZA, heißt der Job. Langzeitarbeitslose und SozialhilfeempfängerInnen soll er „aus der erzwungenen Inaktivität holen“ und sie, so das Merkblatt des Senats, „wieder ins Erwerbsleben integrieren“. Rund 50.000 Menschen schicken die Berliner Sozialämter Tag für Tag mit der Harke auf den Friedhof, lassen sie vor den Museen Zigarettenkippen aufsammeln oder im Seniorenheim die Pforte bewachen. Auf Renten- und Arbeitslosenversicherung wird der Einsatz nicht angerechnet, freiwillig ist er auch nicht. Wer nicht antritt, dem wird die Sozialhilfe gekürzt.

„Das ist Zwangsarbeit unter der Androhung, die Mittel zum Lebensunterhalt zu entziehen“, sagt Norbert Konkol, Gewerkschaftssekretär der ÖTV. Daß GZA- Kräfte ohne Vertrag nicht sozialversichert sind, ist das eine. Daß sie zudem Arbeiten übernehmen, die zu den regulären Aufgaben des öffentlichen Dienstes gehören, findet der Gewerkschafter „allerhöchst suspekt“. Beim Sozialamt ist man da anderer Meinung. Vom „Prozeß des sozialen Lernens durch Arbeit“ spricht die Kreuzberger Sozialstadträtin Ingeborg Junge-Reyer (SPD).

Brigitte Lorenz und Marion Günther sehen die Sache deutlich nüchterner. „Erst wenn die Füße ab sind, dann ist Schluß“, sagt Frau Lorenz. 50 Jahre ist die resolute Kreuzbergerin alt. Eigentlich wollte sie Verkäuferin werden, doch dann kam alles anders. Seit 32 Jahren schrubbt sie jetzt Fensterbänke und Treppenhäuser. Büros sind ihr lieber als Museumshallen: „Fünf Stunden auf dem Steinboden hier, da hammse keine Beine mehr.“ Ihre letzte Festanstellung? Die hat sie verloren, als ihre Mutter zum Pflegefall wurde. Seitdem bekam sie nie wieder einen Fuß in die Tür. „Zu alt“, meint sie.

Marion Günther ist ein Jahr älter als ihre Kollegin. Die zierliche Person gehört zu der Sorte, die keine Sekunde stillhalten kann. Und die gern erzählt aus ihrem Leben, das ihr „so schnell keiner nachmacht“. In Frau Günthers Familie, „da war nur der Großvater was Besseres, Knopffabrikant“. Mit 13 Jahren stand sie auf dem Acker, hat Rüben gezogen, „bis die Wirbelsäule kaputt war“. Zwei Ehen hat sie hinter sich gebracht, vier Kinder geboren, Jahre für eine Reinigungsfirma gearbeitet, „bis die schweren Maschinen kamen, das habe ich nicht mehr geschafft.“ Frau Günther wäre die letzte, die sich beklagen würde. Morgens um drei steht sie auf. Dann füttert sie Susi, die Katze. Und macht Kaffee für Frau Lorenz. Denn die ist vor einer Weile zu ihr in ihre Wohnung am Kreuzberg gezogen. Anderthalb Zimmer teilen sich die Kolleginnen. Ihre bescheidenen Einkünfte haben sie zusammengeworfen: Auf knapp 900 Mark im Monat kommt Frau Günther mit Arbeitslosenhilfe und Zuschüssen vom Sozialamt. Die Miete muß sie selbst übernehmen. Brigitte Lorenz lebt von 531 Mark Stütze, das Zimmer bezahlt das Sozialamt. Auf die 180 Mark im Monat, die ihr der 60-Stunden-Putzjob einbringt, kann sie nicht verzichten.

Und ein gewöhnlicher Arbeitsplatz ist das Berliner Museum für Verkehr und Technik nicht. Ein gelbes Flugzeug hängt überm Eingang, vorsintflutliche Fernseher sind zu bewundern. Und weil in der Garage eine ganze Flotte von Oldtimern verstaubt, baut das Museum an. Stählerne Zeugen der deutschen Luft- und Seefahrt sollen in einem verspiegelten Neubau Platz finden, auf dessen Dach ein Rosinenbomber thront. Kosten des Prestigeprojekts: rund 140 Millionen Mark.

Und während die Bauherren Fördermittel beantragen, wird hinter den Kulissen der Personaletat zusammengestrichen. Den Rotstift setzt man ganz unten an. 23 Reinigungskräfte waren bis vor kurzem im Museum beschäftigt: festangestellt, sozialversichert, alles Frauen. 19 ihrer 23 Arbeitsplätze gibt es nicht mehr.

Ein paar Mitarbeiterinnen des Reinigungstrupps hat man bei der Museumsaufsicht untergebracht. Die übriggebliebenen vier „Stammfrauen“ putzen die Büros jetzt allein. Die Ausstellungsräume übernimmt die private Reinigungsfirma Bosse mit fünf MitarbeiterInnen. Für den Rest holt man sich Hilfen beim Sozialamt. „Wir schaffen das jetzt mit viel weniger Angestellten“, schwärmt Tasso Krewel. Er koordiniert die Billigkräfte, besser gesagt: die Gratiskräfte. Denn den Stundenlohn für die „gemeinnützige Arbeit“ zahlt das Sozialamt. Dem Museum kosten die Aushilfen keinen Pfennig. Dennoch sieht man sich in den oberen Etagen des Hauses offenbar als Wohltäter.

40 RentnerInnen läßt man die Ausstellungsräume bewachen, für sechs Mark die Stunde. Außer den Reinigungsfrauen schickt das Sozialamt rund zehn SozialhilfempfängerInnen für den Ausstellungsbau. „Die sind schon bis zu 30 GZAler bei uns losgeworden“, erzählt ein Hausmeister. Früher seien die Arbeitslosen gern gekommen. Schließlich würde ihnen ja außer drei Mark noch Stütze und Miete bezahlt. „Heute sind die Leute schwieriger“, bedauert Aufbauleiter Krewel, „da müßten Sozialarbeiter her.“

Marion Günther und Brigitte Lorenz haben inzwischen die erste Putzrunde hinter sich und sitzen beim Frühstück. Ihre Kolleginnen sind nicht alle so zurückhaltend wie sie. „Eine Schande, daß wir für das Geld arbeiten müssen“, wettert eine 57jährige. „Beim Sozialamt wird man behandelt wie der letzte Dreck.“ Wochenlang mußte sie schon auf ihre Stütze warten. Wurde sie zum Geldabholen zitiert, saß sie oft Stunden im Wartesaal. Als der Senat dann noch die Sozialkarte für die U-Bahn strich, „habe ich Terror gemacht.“

Daß die Kollegin schnell hochginge, wiegeln die Frauen neben ihr ab. In dem schmucklosen Raum mit der kleinen Teeküche herrscht freundschaftliche Atmosphäre – und strenge Ordnung: die einen Tassen für die Festangestellten, die anderen für die „Sozialfrauen“. Die interne Hierarchie ist klar, wenn gehackt wird, dann von oben nach unten. „Die lassen die Hälfte liegen“, sagen die Stammfrauen über die von der Putzfirma Bosse. „Die gehen nur spazieren“, erzählen die Bosse-Frauen von den GZA-Kräften. Eine von denen schimpft dann auf die Ausländerinnen, „die soviel Geld kriegen für ihre Kinder“ – was eine junge Polin aufregt, die für drei Mark Treppen putzen muß: „Ich möchte auch einen 500er-Vertrag und bekomme keinen.“

Ein 500er-Vertrag, das ist die einzige Perspektive, die der Job vom Sozialamt bietet. Das Programm, das ursprünglich für 500 Langzeitarbeitslose gedacht war, bietet bewährten GZA-Kräften einen festen Arbeitsvertrag für ein Jahr. Statt 60 Stunden arbeiten sie Vollzeit, mit Tariflohn und Sozialversicherung. Müssen sie nach einem Jahr gehen, haben sie Anspruch auf Arbeitslosengeld. Einige könnten sogar vom Betrieb übernommen werden. Theoretisch zumindest. In der Praxis“, sagt ÖTV-Sekretär Konkol, „ist es so gut wie ausgeschossen, per GZA in eine feste Stelle vorzurücken.“

Auch im Museum weiß man, daß die Aufstiegshoffnungen der HelferInnen vergeblich sind. Die Hauptstadt ist pleite, längst wurde eine Haushaltssperre verhängt, der öffentliche Dienst stellt nicht mehr ein. „Wir können hier keine einzige Hilfskraft fest übernehmen“, gibt auch Einsatzleiter Krewel zu, „aber das würden wir denen natürlich nicht sagen.“

Für Arbeitssuchende ist das GZA-Programm eine Sackgasse. Wo Planstellen gestrichen werden, weil man bequem auf billigere Arbeitskräfte zurückgreifen kann, wird die „Hilfe zur Arbeit“ zum Jobkiller. Dennoch will Berlin das Projekt weiter ausbauen. „Beim Einsatz von GZA-Kräften ist die Tendenz steigend“, vermeldet der Sozialsenat. Unternehmer und EU-Sozialfonds will man jetzt anzapfen, um 2.000 neue Stellen zu schaffen. Was dahinter steckt, ist schlicht ein Spartrick: Wer einen GZA-Vertrag bekommt, steht zwar nach einem Jahr wieder auf der Straße. Dann aber ist Arbeitslosengeld statt Sozialhilfe fällig. Und das bezahlt nicht das Land Berlin, sondern der Bund.

Die Verschiebemanöver auf dem Arbeitsmarkt haben Marion Günther und Brigitte Lorenz längst aus den Augen verloren. Wie lange sie hier noch für drei Mark antreten müssen, wissen sie nicht. Und ob sie dann überhaupt noch eine Rente bekommen, fragen sich die beiden manchmal. Aber acht Stunden zu arbeiten jeden Tag, ist auch nicht mehr drin. Die Bandscheiben sind durchgescheuert, und Martion Günther fällt manchmal einfach um im Museum, „warum, weiß keiner“.

Zu Hause bleiben? Kommt gar nicht in Frage. „An die Wand starren, das macht doch keinen Spaß“, meint Frau Günther. Ihre Kollegin zuckt die Achseln und trägt den Eimer zurück in die Putzkammer. „Jetzt erst mal nach Hause, die Beene hoch und Glücksrad gucken.“ Danach geht's ab ins Bett. Und morgen früh um drei geht's von vorne los.