Zwischen den Klangquellen

■ Die Jazz-Chanteuse Nicolette klingt noch immer wie Billie Holiday auf Acid

Bei Nicolette treibt ein jeder sein eigenes Labeling. Die Plattenfirma sah sich genötigt, mit einem Button auf die Massive-Sängerin hinzuweisen, obwohl Nicolette nur ein paar Sätzchen beisteuerte. Der Spiegel beeilte sich angesichts der Wiederveröffentlichung ihres anti-staatlichen Hits „No Government“ von einer „sexy Revolutionärin“ zu faseln. Das alles ungebührlich weit vor dem Veröffentlichungstermin – als ob die Angst umging, einen Trend zu verpassen, der längst abgefahren war. Andererseits verschwiegen die Spiegel-Mannen großzügig das Shut-Up-And-Dance-La-bel, das hinter Nicolettes Debut Now Is Early stand.

Dabei setzten die Shut-Up-And-Dance-Labelbesitzer P.J. und Smiley im Jahr 1992 mit den Ragga Twins, Shut Up And Dance, Black Rum und eben Nico-lette eine musikalische Vision um, die – wie sich heuer herausstellt – ihrer Zeit genau diese vier Jahre voraus war. Indem sie über sperrige, grobschlächtige Breakbeats Stimmen legten, die sich wenig um ihre rhythmischen Kaspereien scherten, prägten sie die Formel, die heute als Drum'n'Bass in aller Ohren ist. Als PJ und Smiley, die sich wenig um die Rechte der verwendeten Samples scherten, dann mit Prozessen überzogen wurden und den Laden dicht machen mußten, tauchte auch Nicolette ab.

Daß sich vier Jahre später die hochgesteckten Erwartungen nicht erfüllen ließen war abzusehen. Für Let No One Live Rentfree In Your Head versuchte ihre neue Plattenfirma Motor einiges und holte angesagte Drum'n'Bass-Remixer ins Studio, die einen Rahmen um Nicolettes Jazz-Kapriolen bauten. Doch anstatt wie Shut Up And Dance gleichgültige Texturen zu entwerfen, halten sich Plaid (Ex-Black-Dog), Dego (4 Hero, Jacob's Optical Stairway) und Felix sklavisch an die Stimmungen, die Nico-lette anschlägt. Am deutlichsten wird dies bei „Nervous“ und „Nightmares“, zwei düsteren Poemen zu denen Alec Empire seinen störrischen Techno-Noise beisteuert. War man 1992 noch an einer Straßenecke an den aufregenden Schnittpunkt zweier Tonquellen geraten, so hört man heuer eher mit Wasser in den Ohren.

Bei ihrem Promo-Auftritt vor einigen Monaten drängte sich ferner der Eindruck auf, daß sie – wie viele Jazz-Sängerinnen der Musikhistorie – keinerlei Ambitionen auf musikalische Kontrolle hegt. Denn im Funky Pussy Club wurde sie, statt als weltabgewandte Chanteuse inszeniert zu werden, als fröhliche Essig-Jazz-Sängerin vor einige Bongo-Spieler plaziert. Aber natürlich blieben immer noch Spurenelemente von „Billie Holiday on Acid“ (NME) übrig. Und im Unit steht das richtige Reagenzglas dazu. Volker Marquardt So, 22. September, Unit, 21 Uhr