Kernspaltereien

■ Berliner Kultur im Zeitalter des Haushaltsloches: Staatsschauspiel und Artverwandte leben durch ihre Fülle

Drängt es Theatergänger in Berlin zum Grundsätzlichen, bricht sich regelmäßig ein gerüttelt Maß an Selbsthaß Bahn: Im Off und bei den Privaten habe man schon lange nichts Eigenständiges mehr gesehen, und um die Staatstheater und Artverwandten stehe es jeweils kaum besser. Das Deutsche Theater mühe sich, gähn, um einen Repräsentativstil. Die Volksbühne brauche dringend einen Übervater-, sprich: Castorfmörder. Die Schaubühne, vergiß es, liege erlesen im Tiefschlaf. Das Berliner Ensemble – ein einziges Trauerspiel. Und das putzige Maxim Gorki Theater sei auch nicht so der Hit. Hauptstadttheater? Pah! Gleichwohl geht man hin.

Als im März bekannt wurde, daß die Berliner Kultur in diesem Jahr knapp 20 Millionen Mark einsparen muß und das vor allem die großen Bühnen spüren werden, hielt sich der Protest in Grenzen. 20 Millionen, das ist mehr als der Etat des Maxim Gorki Theaters, aber mit koordiniertem Marketing, weniger Gästen, gemeinsamer Nutzung von Werkstätten und dezentem Verwaltungsabbau wird es schon zu schaffen sein.

Wird es nicht. Denn inzwischen geht es um 100 Millionen Mark weniger innerhalb von drei Jahren; und auch wenn das etablierte Schauspiel davon nur einen Teil „erbringen“ muß, sind die Sparmaßnahmen, die Kultursenator Peter Radunski (CDU) für die entsprechenden Bühnen vorschlägt, alarmierend: Nebenspielstätten könne man sich nicht mehr leisten, heißt es, Ensembles seien zu verkleinern, und über die Aufgabe des täglich wechselnden Programms sei ebenso nachzudenken wie über eine Abstimmung der Spielpläne. Gleichzeitig, so Radunski, hätten die Theater „ihre künstlerische Substanz zu wahren“, indem sie sich auf ihren „Kernauftrag“ konzentrieren. Das wird schwierig.

Denn die Berliner Theater haben ja gar keinen jeweiligen „Kern“ in dem Sinne, daß die Arbeit eines einzigen Regisseurs, eine einzige dramaturgische Linie oder drei bestimmte Schauspieler den Glanz ausmachen würden. Das eben ist ja der Grund für die fortgesetzten Klagen, ist aber gleichzeitig auch die Motivation, weiter in Berlin in die Theater zu gehen.

Das Deutsche Theater etwa hat das stärkste Männerensemble der Republik zu bieten. Daß es einen Christian Grashof oder Walter Schmidinger auch mal nur in einer Nebenrolle besetzt, macht hier die Sache reizvoll. Und kennt die Volksbühne nicht einfach jeder, weil auch Laurie Anderson oder Tocotronic hier auftreten und begleitend zu Schlingensiefs „Rocky Dutschke“ vorneweg so etwas schön Überflüssiges wie „Müllfestspiele“ stattfinden? Was wäre die Volksbühne, hätte man nur drei Castorf-Inszenierungen im Jahr (Kernauftrag) – und dabei noch nicht einmal sein „Nibelungen“- Projekt, weil ja schon (Spielplanabstimmung!) Thomas Langhoff im Deutschen Theater „Kriemhilds Rache“ zeigt?

Weiter: Die Schaubühne leistet sich mit Andrea Breth eine künstlerische Direktorin, die höchstens einmal in der Spielzeit selbst inszeniert. Wenn man sie (keine Gäste!) zu mehr zwänge, wäre man sie los. Und das Berliner Ensemble, braucht es dort nicht auch ergebnislose Versuche, damit sich daraus dann eine Monsterproduktion von Einar Schleef erhebt – oder einige intelligent rhythmisierte Szenen von Thomas Heise?

Die Fülle der Versuche macht's, das Miteinander und Nebeneinander und Gegeneinander des Angebots: psychologischer Realismus versus antipsychologische Statik versus intellektuelles Spaßtheater, mal an den gleichen Stoffen durchkonjugiert, mal versuchsweise vermischt und dann wieder fallengelassen. Theater in Berlin funktioniert nicht als Kernbetrieb. Das Drumherum gehört zur Substanz.

Natürlich ließe sich durch einen Engagementstopp oder die Angliederung attraktiver Cafés, durch die eine oder andere Lesung weniger die Ökonomie disziplinieren. Aber es gibt Grenzen. Das Gemeinschaftsmarketing, das im Radunski-Sparvorschlags-Papier schwerpunktmäßig angesprochen ist, existiert übrigens bereits. Die meisten Bühnen haben sich zu einer Spielzeit AG zusammengeschlossen, ihre Budgets für Werbung zusammengelegt und werden hier bis zu 50 Prozent sparen, wie der Kulturmanagementexperte und Berater des Deutschen Theaters, Klaus Siebenhaar, versichert.

Aber der Werbeetat ist an großen Häusern zwar der zweit- oder drittgrößte disponible Etat, macht aber etwa am Deutschen Theater auch nur 600.000 von 35 Millionen Mark aus. Das Deutsche Theater ist sogar willig und fähig, seine dritte Spielstätte, die Baracke, durch seinen Freundeskreis zu finanzieren, wenn aber der Prater der Volksbühne (die sicher nicht so wohlhabende Freunde hat) privatisiert werden müßte, würde das den Nimbus des Hauses beträchtlich schmälern.

Der Senator beharrt darauf, kein einzelnes Haus zu schließen – was in frühestens fünf Jahren gravierende Ersparnis brächte –, sondern überall ein bißchen wegzunehmen, auch wenn es ein bißchen mehr sein muß, als eigentlich ginge. Sein fester Glaube, daß dies nur eine Durststrecke sei und nach dem Regierungsumzug die Geldquelle wieder munter sprudeln wird, baut jedoch auf keine Heilsversprechung des Bundes in Form eines sättigenden Hauptstadtvertrags Kultur. Und Berlin selbst wird auch im günstigsten Verlauf der Haushaltskonsolidierung im Jahr 1999 noch 40 Prozent aller Einnahmen in die Kreditabzahlung stecken müssen. Es ist ein Dilemma, das Einschnitte verlangt. Nur sollte man diese nicht zu substanzerhaltenden Verschlankungen umlügen wollen.

Petra Kohse