NS-Anklage gegen Exminister

■ Der letzte Vertreter des Vichy-Regimes in Frankreich muß sich wegen Judendeportationen vor Gericht verantworten

Paris (taz) – Maurice Papon, mutmaßlicher französischer Kriegsverbrecher und späterer gaullistischer Minister, kommt vor Gericht. Die Anklagekammer des Berufungsgerichts von Bordeaux hat gestern entschieden, den früheren Nazi-Kollaborateur wegen „Verbrechen gegen die Menschheit“ vor Gericht zu stellen.

Der heute 86jährige Papon war zwischen 1942 und 1944 Generalsekretär der Präfektur Gironde bei Bordeaux und für „jüdische Fragen“ zuständig. Überlebende des Holocausts beschuldigen ihn seit 1981, er habe 1.690 Juden, darunter 240 Kinder, deportieren lassen. Die Deportierten kamen in den NS-Vernichtungslagern um.

Papon ist der erste – und auch letzte – hohe Vertreter des französischen Staates, der heute noch wegen der Judenverfolgung unter Vichy-Marschall Petain zur Rechenschaft gezogen werden kann. Als Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt wurden in Frankreich bisher der Deutsche Klaus Barbie sowie Paul Touvier, ein Mitglied der Miliz. Touvier starb im Juli diesen Jahres im Gefängnis. Der Vichy- Polizeichef René Bousquet, ein Freund François Mitterrands, war 1993 kurz vor seinem Prozeß erschossen worden.

Papon blickt auf eine brillante und sehr französische Karriere zurück. In den 30er Jahren hatte er mit der Volksfront geliebäugelt, bevor er in die Dienste des Vichy- Regimes trat. Nach dem Krieg wurde er Präfekt in Korsika, Algerien und schließlich in Paris, wo unter seiner Ägide 1961 200 Algerier bei einer verbotenen Demonstration im Kugelhagel der Polizei fielen. Unter Präsident Valéry Giscard d'Estaing war er drei Jahre bis 1981 Haushaltsminister. Ende 1981 wurde die erste Anklage eingeleitet, 1987 wegen Formfehlern aber eingestellt. Neue Sachverhalte führten 1990 zur Wiederaufnahme der Ermittlungen. Mit Prozeßbeginn wird erst im nächsten Jahr gerechnet. Stefan Brändle