Seine Zukunft bleibt ein Rätsel

Tschernobyl-Sarkophag: Eine löchrige Halle mit vielen Sälen soll das hochradioaktive Material der Katastrophe zurückhalten  ■ Von Reiner Metzger

Berlin (taz) – „Der Sarkophag war ein Fehler“, meint Wolfgang Kromp vom Institut für Risikoforschung der Universität Wien. Durch die Massen an verbautem Beton „wurden ungeheure Mengen Material kontaminiert“, so Kromp. Und die müßten nun auch noch irgendwann sicher eingeschlossen und endgelagert werden. Außerdem behindert der Sarkophag die Aufräumarbeitem am 1986 explodierten Block 4 von Tschernobyl. Schließlich geht es dort zu wie auf einer belebten Baustelle. Etwa 150 Menschen lesen täglich die Kontrollinstrumente ab. Wartungspersonal bastelt ständig an der morschen Hülle des Unglücksreaktors.

„Ukritje“ – Schutz, Bunker – nennen die Ukrainer den Sarkophag. Er wurde von Mai bis Oktober 1986 auf den übriggebliebenen Trümmern des Reaktors errichtet. Und das ist genau das Problem: Niemand weiß, wie lange die Fundamente und halbzerborstenen Stützpfeiler halten. Immerhin hat der Sarkophag schon einige kleinere Erdbeben überstanden, ohne zusammenzubrechen. Die Ausläufer von Erschütterungen der tektonisch aktiven Karpaten im Westen erreichen das Becken im Norden der Ukraine auch höchstens mit einer Stärke von fünf auf der Richterskala, beruhigte ein staatlicher Bericht besorgte Gemüter.

Die Konstruktion sollte auch wesentlich dazu dienen, den direkt angebauten Reaktorblock 3 weiterbetreiben zu können. Block 3 teilt sich das Maschinenhaus, den Schornstein und die Hilfsanlagen mit Block 4. Also wurde im Maschinenhaus eine Trennwand eingezogen, Räume wurden teilweise mit Beton gefüllt, so daß bis zu sechs Meter dicke Barrieren entstanden zwischen den Arbeitern, die mit den Kränen für Block 3 hantieren und den etwa 180 Tonnen strahlender Lava im Block 4. Der Beton soll die Strahlung soweit abfangen, daß die gültigen Normen für den Strahlenschutz unterschritten werden.

Der Sarkophag ist nicht etwa ein hermetisch verschlosener Betonblock. Sein Dach besteht aus aufgelegten Stahlrohren mit 1,2 Meter Durchmesser, die 1986 im Herbst gerade verfügbar waren. Darauf wurde eine Stahlrohrkonstruktion montiert, die die Dachplatten hält. Die Wände sind im Bereich der nördlichen, 50 Meter hohen Kaskadenwand bis zu 20 Meter dick. Andere sind wesentlich dünner. Viele Betonarbeiten wurden ferngesteuert erledigt, der Baustoff einfach in die Form gepumpt. Von Anfang an gab es Löcher, später gesellten sich Risse hinzu. Sie hatten ursprünglich eine Gesamtfläche von etwa tausend Quadratmetern. 1992 und 1993 wurden jedoch einige Lücken geflickt.

Durch die Spalten tritt oben Regenwasser ein und sickert unten wieder heraus. Das Wasser hat Auswirkungen auf die Reaktivität der glasierten hochradioaktiven Masse: Wasserstoffatome bremsen schnelle Neutronen ab. Schnelle Neutronen entstehen beim Zerfall von Atomen, was im Sarkophag ständig passiert. Werden sie abgebremst, spalten sie effektiver Atome und heizen so den Zerfall an. So könnte im Prinzip eine Kettenreaktion entstehen, die sich ständig selbst verstärkt. Dabei würde die Umgebung stark erhitzt und die Radioaktivität würde stark steigen. Die Wahrscheinlichkeit für ein solches Ereignis wurde in verschiedenen Studien der Atomindustrie jedoch als sehr gering eingestuft.

Über den Sarkophag wird schon länger gestritten. Die Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) in Köln fordert, daß endlich von einer unabhängigen Kommission geklärt wird, wie der „Sarkophag zu ertüchtigen sei“, so ein GRS-Sprecher gestern: „Niemand kann vorhersehen, wann der Sarkophag zusammenbricht.“ Dann würden die Beschäftigten und die Umgebung erheblich verstrahlt. Allein eine Tonne radioaktiver Staub wabert im Reaktor herum. Für SpezialistInnen: Die GRS schätzt die radioaktive Aktivität des Staubes auf 4,3 mal 10 hoch 15 Becquerel. Immer wieder wird eine Latexlösung über eine Sprinkleranlage versprüht, um die Körner zu binden. Doch unter der starken Strahlung zersetzt sich das Latex schnell.

Der Risikoforscher Kromp fordert, auf lange Sicht auf einen zweiten Betonsarg um den bisherigen herum zu verzichten. Erstens würde dann noch mehr Material verstrahlt und außerdem würden damit Milliarden Mark gebunden, die man sinnvoller verwenden könnte. Schließlich müsse das Material irgendwann sicher eingeschlossen und dann endgelagert werden. All das muß ferngesteuert geschehen, weil die Strahlung im Sarkophag noch Jahrzehnte zu hoch sein wird für Menschen. Und mit der dafür nötigen Robotertechnik gibt es „noch wenig Erfahrung“, so auch der GRS-Sprecher Heinz Peter Butz.

Außerdem würde auch ein noch so sicherer Sarkophag den Reaktor nach unten nicht abdichten.

Wolfgang Kromp sieht die Hauptgefahr derzeit nicht im Sarkophag, sondern in den beiden laufenden Reaktoren von Tschernobyl. Immerhin sind sie vom gleichen Typ wie der explodierte Reaktor, aber älter als dieser. Auch die riesigen Mengen an strahlendem Material, die in der gesperrten 30-Kilometer-Zone um die Reaktoren einfach vergraben wurden, lauern dort noch. Ganz zu schweigen vom Stausee für das Kühlwasser der Atomzentrale: Dorthin flossen und fließen die radioaktiven Abwässer und setzten sich im Sediment hinter dem Damm ab. Bei einer der im Fluß Pripjat schon vorgekommenen Flutkatastrophen oder gar einem Dammbruch wäre ein zweites Tschernobyl für die Bewohner flußabwärts vorprogrammiert.