Vom Überleben des neuen Friedens

■ Helfer aus Bosnien berichten von zerstörten Städten, frierenden, hungernden Menschen und zuwenig Spenden

„Vor vier Jahren war es das Ziel, den Krieg zu überleben. Jetzt stehen wir vor der Frage, wie sich der Friede überleben läßt.“ Nevzeta Sulja, Sprecherin der bosnischen Hilfsorganisation „Slobodna Bosna“ aus Köln, kämpft mit den Tränen. „Manche Leute können den Frieden gar nicht überleben. Die bringen sich um.“ So wie ihr Bruder. Seit 1994 hatte der Kriegsversehrte als Flüchtling in der Bundesrepublik gelebt. Im Dezember 1995 war er freiwillig nach Sarajevo zurückgekehrt. Am 16. August nahm er sich das Leben.

In materieller und in psychischer Hinsicht sind die Bedingungen für heimkehrende Kriegsflüchtlinge in Bosnien-Herzegowina kaum erträglich. Dika Al-Saleh sprach im August mit Rückkehrern in der Enklave Odzak: „Sie haben geweint. Wenn Nahrungsmittel verteilt werden, werden sie von Daheimgebliebenen ans Ende der Schlange gedrängt. Man wirft ihnen vor, in Deutschland genug Geld gesammelt zu haben.“

Die politische Lage ist dort vergleichsweise stabil. Aber es fehlt an allem: „Die Stadt ist völlig zerstört. Stromnetz, Schulgebäude, Wasserleitungen und Kanalisation sind kaputt. Es gibt keine Möglichkeit, die Industriebetriebe in absehbarer Zeit wieder aufzubauen“, berichtet Dika Al-Saleh. Ihr Mann arbeitet als Arzt in der alten Heimat. „Am Telefon hat er mir erzählt, daß er sich seit 20 Tagen nicht waschen konnte.“ Sie selbst habe bei einem Besuch Menschen gesehen, die ohne Decken und Matratzen auf nacktem Beton schlafen müßten. Am 1. September ist in Odzak zum ersten Mal Schnee gefallen.

Fast 20 Hilfsorganisationen und Betroffene beteiligten sich in dieser Woche an einer Anhörung der Gesellschaft für bedrohte Völker in Bonn, die sich mit der Frage befaßte, ob eine zwangsweise Rückführung von Flüchtlingen derzeit möglich sei. Das Fazit war einhellig: Es sei verantwortungslos, Vertriebene noch vor dem Frühjahr in Kälte, Hunger und Arbeitslosigkeit zurückzuschicken.

Die Probleme sind zahlreich. Noch immer leben etwa 1,4 Millionen Binnenflüchtlinge in Bosnien, die es angesichts der faktischen ethnischen Dreiteilung des Landes nicht wagen, in ihre Heimatgebiete zurückzukehren. Ihre Anwesenheit verschärft auch die Not der Einheimischen. Konflikte zwischen den verschiedenen Gruppen der erschöpften, unterversorgten Bevölkerung sind unausweichlich. Die Arbeitslosigkeit beträgt bis zu 80 Prozent. Die medizinische Versorgung ist mangelhaft. Die Preise für Brennmaterial schießen in die Höhe.

Hilfe wird dringend gebraucht. Seit Kriegsende aber ist die Spendenbereitschaft deutlich zurückgegangen. „Viel wird versprochen, wenig in die Tat umgesetzt“, klagt Irfan Coković von der Organisation Merhamet. Es dauere lange, bis Projekte abgesegnet seien, und weitere Monate, bis endlich Geld fließe. „Ich höre immer wieder, daß man Maurer nach Bosnien schicken soll. Diese Maurer brauchen aber auch Material.“

Eine zwangsweise Abschiebung hält Coković im Moment für äußerst gefährlich: „Die Mehrheit will ja freiwillig zurück. Das kann aber ins Gegenteil umschlagen, wenn jetzt einige in eine katastrophale Situation geführt werden und darüber Informationen nach Deutschland zurückkommen. Damit wird die Bereitschaft zur Rückkehr sinken, und man macht damit viel kaputt. Auch in den Köpfen dieser Menschen.“ Bettina Gaus, Bonn