Rhythmische Meisterschaft

■ Premiere von Robert Lepages Hamlet-Adaption „Elsinore“ auf Kampnagel

In der Welt gibt es über Hamlet soviel bedrucktes Papier, daß in späteren Erdaltern daraus mal eine eigene Hamlet-Kohle werden könnte (vorausgesetzt, es würde gemeinsam verschüttet). Wie sich also befreien von dem Deutungsdruck, der schon jetzt auf jedem neuen Versuch der Aufführung gigatonnenschwer lastet? Robert Lepage, Darsteller und Regisseur der am Mittwoch auf Kampnagel aufgeführten Hamlet-Adaption Elsinor, ist der Meinung, man sollte das englische Wort für Stück, Play, einfach wörtlich nehmen und spielen.

Mit kindlicher Freude am Theaterzauber und einer gelöst fließenden Phantasie, die sich – um nicht verrückt zu werden – um bestimmte Themen bewegt, befreit sich Lepage also von der Erdenschwere der Tragödie, ohne ihren Gehalt zu verändern. Und dabei findet er auf der Ebene der Deutungen vielleicht nichts Neues – wer will das schon wissen, angesichts der Hamlet-Kohle –, aber doch sehr viel uns heute Verblüffendes.

So führt ihn sein Spieltrieb bei der ständigen Verwandlung in die verschiedenen männlichen und weiblichen Charaktere immer wieder zu Lösungen, die Freude verbreiten. Etwa wenn er als Claudius und Gertrude, König und Königin von Dänemark, in der Projektion einer Spielkarte trohnt, die nur durch den Wechsel des Rahmens (von „K“ nach „Q“) den Rollenwechsel anzeigt. Oder wenn er vor eine Videocamera tritt und sein erbleicht erscheindendes Videobild den Dialog/Monolog mit dem Geist seines Vaters ermöglicht.

Das Thema der Schizophrenie, das Lepage neben den Komplexen Inzest, Einsamkeit und Spionage ins Zentrum seiner Adaption gestellt hat, wird so durch technische Tricks berückend bildlich, deren Schlichtheit ihn eben vor dem Fehler vieler Multimedia-Projekte bewahrt, daß der Darsteller zur kalten Applikation der Technik wird. Auch wenn die ganze Apparatur aus beweglichen und drehbaren Wänden, riesigen Projektionen von Texturen und Szenerien, verschiedenen Videotechniken usw. einen ungeheuren Aufwand bedeutet, so gewinnt Lepage aus der sicheren Reduktion einen Zauber, den mehr virtueller Wirbel unmöglich gemacht hätte.

Fast noch eindrücklicher als diese Sinfonie der Bilder und Räume ist die Rhythmik, mit der Lepage die unablässig sinkenden und steigenden Bühnenteile, die Musik, den Sprachrhythmus und seine eigene Bewegungen koordiniert. Diese formale Meisterschaft, in der selbst die Szenenwechsel organischer Bestandteil einer Gesamtchoreografie werden, gehört vielleicht zu den größten Leistungen des kanadischen Theatermanns.

Daß Lepage auch ein eindrücklicher Schauspieler ist, der die ursprünglichste Kunst des Darstellers, die Verwandlung, in moderner Manie perfekt beherrscht, erlaubt die Wahrung von Feinheiten. Sonst wäre dieser Hamlet nur eine großartige Show. Till Briegleb Foto: Markus Scholz