Hauptsache, die Kinder sind weg von der Straße

■ Eltern verplanen die Freizeit ihrer Kinder, um sie vor der Realität zu schützen

Fast jeden Morgen um kurz vor neun sitzt Desiree alleine vor der Haustür. Jedesmal, wenn die Kinder der umliegenden Kinderläden mit ihren Müttern und Vätern vorbeihasten, grüßt sie quietschvergnügt und zieht den Rock über ihre zerlöcherte Strumpfhose. Seit neuestem hat sie einen kleinen Hund bei sich, und der ißt – wie Desiree – am liebsten Negerküsse zum Frühstück. Um neun Uhr morgens ist Desirees ältere Schwester längst in der Schule, und die Mutter arbeitet. Also verbringt die Kleine ihre Vormittage vor der Tür.

Wenn sie mal muß, geht sie zu einer Nachbarin. Zu essen kriegt sie öfter was beim Bäcker nebenan. Dann nämlich, wenn die gerade noch so eiligen Eltern ihre Sprößlinge im Kindergarten abgegeben haben und wieder gemütlich heimwärts bummeln. Sie kaufen Desiree aus Mitleid ein Brötchen. An manchen Tagen ist das kleine Mädchen mit Eßbarem so gut versorgt, daß sie alles ihrem Hund gibt. Dann machen die spendablen Erwachsenen ein finsteres Gesicht und sind froh, daß es ihre Kinder besser haben.

Aber haben es Kinder, die morgens zum Kinderladen hasten, so viel besser? Für manche beginnt das volle Programm gleich nach dem Aufstehen. Den halben Tag Kindergarten oder Schule, danach Turnunterricht, Malschule, abends der Schwimmkurs. Selbstverständlich ist auch die musikalische Früherziehung, mit der bei Fünfjährigen die Lust auf Klavierstunden geweckt werden soll.

Daß solcherart engagierte Eltern selber keinen Ton aus einer Flöte kriegen, geschweige denn gerne schwimmen gehen, ist nichts Ungewöhnliches. In Kursen sollen die lieben Kleinen lernen, was Mama oder Papa selber nie lernen durften oder wollten. Gerade Eltern aus gutsituierten Kreisen scheinen zu glauben, daß Kinder nur vollwertige Mitglieder der Gesellschaft werden, wenn sie mindestens vier verschiedene Termine pro Woche haben.

Doch neben dem Ehrgeiz, aus seinem Kind den Genius herauszukitzeln, gibt es noch andere Gründe für die organisierte Freizeitgestaltung. In erster Linie ist es die Angst vor der Straße, die Eltern zum Planen veranlaßt. Autoverkehr, Drogendealer und bissige Köter drohen zumindest in den Innenstadtbezirken so gut wie überall. Kinder, die auf der Straße spielen, gehören meistens zu Eltern, die sich wenig darum kümmern, welche Gefahren ihren Sprößlingen drohen. Die Straße, ursprünglich ein Ort voller Kommunikation und Leben, ist für viele Erziehungsberechtigte zum Synonym für Gewalt, Schmutz und Angst geworden.

Und davor möchten nicht wenige Eltern ihre Kinder am liebsten bewahren. Dem Alltag ins Gesicht sehen, erklären, warum es Junkies gibt und warum der Besoffene an der Straßenecke keinen Platz zum Schlafen hat und man ihn trotzdem nicht mit nach Hause nehmen kann, ist unangenehm. Geschichten von bösen Männern, die Kinder auf der Straße ansprechen und sexuell mißbrauchen, hat fast jeder im Hinterkopf. Daß Kinder mit dem Bösen auf der Straße fertig werden, glauben nur die wenigsten. Deshalb versuchen Eltern, die Risikofaktoren, wo es geht, zu reduzieren. Wer es sich leisten kann, zieht ins Grüne, dorthin, wo die Kinder eben nicht das Drama der Gesellschaft auf der Straße vorfinden. Wer auf die Innenstadt angewiesen ist und die Langeweile der Vorstadtidylle scheut, versucht seine Kinder auf andere Weise vor den Gefahren „da draußen“ zu schützen.

Vor allem der Autoverkehr hat dazu beigetragen, daß Eltern die Zeitplanung ihrer Kinder übernehmen, damit diese bloß nicht zu viele Straßen überqueren müssen. Mittlerweile gibt es zwar Spielstraßen, begrünte Hinterhöfe und eine beträchtliche Anzahl an Spielplätzen, die auf den ersten Blick kinderfreundlich wirken. Aber was ist, wenn in den Grünanlagen gebrauchte Spritzen herumliegen? Da fordern selbst aufgeklärte, liberale Eltern schnell die Vertreibung der Drogenszene und versuchen damit zumindest ihre Straße aus der Lawine gesellschaftlicher Realität herauszuhalten. Falls solcherlei Protest überhaupt Erfolg hat, vergehen Jahre, und so lange holt man seine Kinder lieber von der Schule ab, fährt sie zu Freunden oder organisiert ein abwechslungsreiches Wochenendprogramm.

An Angeboten mangelt es schließlich nicht. Kindertheater, Kino, Puppenausstellungen und Zoobesuche schützen jederzeit vor Langeweile, unter der gerade Einzelkinder oft leiden. Anstatt bei den Nachbarskindern zu klingeln und gemeinsam etwas draußen zu unternehmen, verlassen sich die behüteten Sprößlinge ganz auf das ausgearbeitete Programm von Mama oder Papa.

Daß dabei die Eigeninitiative langfristig auf der Strecke bleibt, merken Kinder Jahre später, dann nämlich, wenn sie ihr Leben plötzlich selber organisieren müssen. Spätestens nach dem Studium wird es ernst. Und man stellt plötzlich erschreckt fest: Das Leben ist doch mehr als ein voller Terminkalender. Christine Berger