Die Stadt neu erobern

taz-Serie: Das Verschwinden des öffentlichen Raumes. (10. Folge) Stadtraum zum Toleranzraum machen  ■ Von Rolf Lautenschläger

Mit Schmuddelkindern und unkontrollierbaren Szenen will die Hauptstadtgesellschaft nicht spielen. Wo sie den wachsenden Verwertungsinteressen und Hochglanzarchitekturen im Weg stehen, wird der Stadtraum von ihnen geräumt. Der politischen und wirtschaftlich neuen Konstellation des Rollback fallen besetzte Häuser und halbe Straßenzüge, Wagenburgen, Aussteigerkulturen sowie Kieze zum Opfer.

Für die Rollheimer am Engelbecken, am Potsdamer Platz und der East-Side-Gallery gibt es keinen städtischen Raum mehr, ebenso verkleinert sich der Freiraum zur eigenständigen Gestaltung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse in den „wilden Quartieren“ Schönebergs, Kreuzbergs und in Prenzlauer Berg, werden diese doch von den marktorientierten Begehrlichkeiten finanzstarker Gruppen immer stärker in die Zange genommen. Man hat SO 36 einst als das gallische Dorf in der Frontstadt bezeichnet oder die Hackeschen Höfe und die Spandauer Vorstadt zur alternativen Nische Ost-Berlins stilisiert. Nach dem Fall der Mauer hat sich die Lebendigkeit der Quartiere zwar erhalten – die Protagonisten indessen wurden ausgetauscht. Zu Recht beklagte der Architekt Christoph Langhof den schicken Umbau der Hackeschen Höfe mit dem überkommenen Flair von Döblins „Alexanderplatz“ als „zu schön“. In den neuen Galerien, Höfen, Kinos und Kneipen findet ein Rollenwechsel statt: Den Experimenten der Wendezeit sind klare Eigentums- und Nutzungsstrukturen, den Schmuddelkindern in den Cafés und Low-Budget-Künstlern die abgeklärte Szene der Oranienburger Straße gefolgt, die den Ort für ihre Ansprüche – als bloßen Interessenraum – transformieren. Beharrungsvermögen von Initiativen, Gruppen und Bewohnern gegen den Verlust räumlicher Identität und die Zumutung möglicher Vertreibung besteht trotzdem. Es ist sogar planbar. Merkwürdigerweise haben die Verteidiger räumlicher Identität dort mehr Erfolg als radikalisierte Gruppen, wo sie mit List und Flexibilität auf die neuen Ansprüche reagieren. Das geht selbstverständlich nicht ohne Einbußen, Desillusionierungen und Veränderungen vonstatten. Der Vorwurf des Verrats aber bleibt unbegründet, solange der Stadtraum oder die Treffs gleichermaßen bestehen für nichtetablierte und etablierte Gruppen, Kids, Freaks, „Independents“, Bürgerinitiativen, politische Gruppen und Initiativen. Der öffentliche Raum erfährt dadurch sogar eine Steigerung, teilen sich ihn doch diese mit anderen. Er wird zum Toleranzraum. Wo er das nicht bleibt, geht er verloren.

In der Stadt haben sich derartige Toleranzräume erhalten und schaffen sich immer wieder neu: etwa im Mehringhof, der Ufa-Fabrik oder in der Kulturbrauerei. Die einst besetzten Gewerbehöfe und Fabrikanlagen sind heute zwar legalisiert und die Besetzer teilweise zahme politische Alternative mit Hang zum Kleinbetrieb und zur Kulturszene. Dennoch hat sich der Charme des Experimentellen, des Schillernden und Selbstbestimmten erhalten und schreibt sich fort, obwohl längst nicht mehr die allein das Sagen haben, die in den siebziger Jahren diese Räume eroberten.

Da auch im Toleranzquartier die Konkurrenz tobt, gilt für jene Projekte wie auch für das Neue Tempodrom, daß sie nur funktionieren, wenn aneignungsfreie Räume gebaut und erhalten werden und statt Verdrängung das Prinzip der Mischung gilt. „Das Neue Tempodrom wird nicht das alte sein“, sagt die Chefin Irene Moessinger. „Trotzdem soll es nichts anderes werden.“ Das Image vom staubigen Potdamer Platz, wo das erste Zelt Exoten und Stadtneurotiker, Musikfans und Clowns gleichermaßen anzog und ihnen Raum zur Selbstdarstellung bot, änderte sich schon am Standort nahe der Kongreßhalle.

Geblieben allerdings ist – auch bei der neuen Planung am Anhalter Bahnhof –, daß das Tempodrom baulich und konzeptionell den Toleranzraum erhalten hat. Er ist geprägt von Differenzierung, Innovation, Überraschendem und einem Anteil Chaos, der nötig ist, sich wohlzufühlen und eigene (künstlerische) Ansprüche realisieren zu können. Es ist Raum und Kommunikationsort für städtische Szenen – ganz nach dem Geschmack des Soziologen Hartmut Häußermann, der in der Serie schrieb: „Das Typische und Aufregende an städtischen Szenen ist, daß man mit etwas konfrontiert wird, das man nicht erwartet. Dazu gehört das Widerständige, das Anarchische.“ Im Unterschied zu seiner Ansicht, daß „verplante Flächen“ nicht zum öffentlichen Raum und zur Freisetzung von Kreativität taugen, läßt sich am Tempodrom etwas anderes aufzeigen: Mit der Planung eines großen, ovalen Bühnenraums unter einem Ökodach und einem Ring von Nebenräumen für unterschiedliche Nutzungen sind die Vorbedingungen erfüllt für die Identität eines Ortes, der programmatisch für die Begriffe Kultur und Gegenkultur, Öffentlichkeit und Lebendigkeit steht, die dort Raum finden.

Im Unterschied zur Ufa-Fabrik, die sich durch Beschränkung der Kommerzialisierung verweigert, bedroht zugleich die massive Vergrößerung das Neue Tempodrom. Unkontrollierbar werden dabei weniger die Balance im Toleranzraum als vielmehr die Ansprüche derer, die in das Projekt Neues Tempodrom investieren. Wenn diese die Freiräume der Selbstverwirklichung, der Eigenproduktionen, der schrägen Musik und des Experiments von der Bühne räumen, kommt das der Vertreibung der Wagenburgen gleich, der Toleranzraum wäre verschwunden.